ISRAEL UND IRAN
Der
Point of no Return rückt näher
Von Pierre Heumann
Wie wird Israel angesichts der iranischen Drohungen reagieren? Bisher setzt
die Staatsführung auf internationale Kooperation gegen Teheran. Doch die Uhr
tickt - in der Region droht ein Szenario des nuklearen Schreckens.
Jerusalem
- Die israelischen Geheimdienste schlagen Alarm: In den unterirdischen Anlagen
des Gottesstaates Iran werden Raketen mit nuklearen Sprengköpfen zum Abschuss
auf Tel Aviv bereit gemacht. Innerhalb der nächsten 48 Stunden sei ein
iranischer Angriff auf Israel zu erwarten. Der israelische Regierungschef
handelt schnell und kaltblütig. Er setzt auf die Karte des atomaren
Zweitschlags und lässt sowohl die atomar bestückten "Jericho"-Raketen
als auch die "Dolphin"-Unterseeboote in Bereitschaft versetzen.
Dieses Grusel-Szenario existierte bisher bloß in der Phantasie des Autors
Schabtai Schoval, der in seinem Roman "Ich, der Auserwählte" vor
einigen Jahren die Folgen eines nuklearen Angriffs auf sein Land in Romanform
beschrieb. Doch Schovals Plot fürs Jahr 2009 könnte bald von der Wirklichkeit
überholt werden. Iran lässt sich von den internationalen Protesten gegen seine
nukleare Aufrüstung nicht beeindrucken. Und mit einer Verbesserung der
Mittelstreckenrakete "Schahab 3" wird er in absehbarer Zeit in der
Lage sein, Tel Aviv zu erreichen.
Israel werde sich mit der Drohung eines
nuklearen Iran nicht versöhnen, warnt der amtierende Premier Ehud Olmert.
Generalstabschef Dan Halutz spricht von einer "existentiellen
Bedrohung" des Landes. Mit solch scharfen Worten hoffen Politiker und
Generäle in erster Linie, den Westen gegen Iran zu mobilisieren. Gleichzeitig
wird Teheran von Jerusalem einmal mehr zum Schurkenstaat abgestempelt, der den
internationalen Terror unterstützt. Der israelische Verteidigungsminister
Schaul Mofas macht deshalb Iran und Syrien für den jüngsten palästinensischen
Selbstmordanschlag in Tel Aviv verantwortlich. "Das Attentat wurde von
Teheran finanziert, von Syrien geplant und von den Palästinensern ausgeführt",
zitiert ein Sprecher des Verteidigungsministeriums Mofas. Um die nukleare
Aufrüstung Irans zu stoppen, setzt Israel auf eine internationale Koalition.
Der Atomstreit soll vor dem Uno-Sicherheitsrat landen und der Sicherheitsrat
dann Sanktionen gegen Iran beschließen.
Militärschläge können Iran wahrscheinlich nicht stoppen
In Jerusalem ist man zwar skeptisch, ob sich der Sicherheitsrat zu Sanktionen
durchringen kann. Dennoch haben israelische Diplomaten ein ganzes Paket von
Sanktionen vorbereitet, welche die Ajatollahs treffen sollen. Zum Arsenal
müssten laut israelischer Vorstellung der Boykott iranischer Ölexporte, ein
Kooperationsstopp der Internationalen Atomenergie-Agentur (IAEA) mit Teheran
und Landerestriktionen für Flugzeuge der Iran Air gehören. Auch ein Schlag
gegen das sportliche Image müsse erwogen werden: Das iranische Team solle für
die Fußball-WM in Deutschland gesperrt werden.
Offiziell wird es kein israelischer Sprecher zugeben: Aber die Mehrheit der
Experten sei der Meinung, dass Israel keine militärische Option gegen die
iranische Bombe hat, sagt "Haaretz"-Journalist Yossi Melman. Israel
konnte zwar im Jahr 1981 den irakischen Atomreaktor "Osiris" mit
einem Angriff zerstören. Doch die Iraner haben aus den Fehlern von Saddam
Hussein gelernt. Ihre Atomanlagen sind nicht nur übers ganze Land verteilt,
sondern teils auch in unterirdischen Anlagen abgesichert. "Jeder Versuch,
das iranische Nuklearprogramm zu zerstören, würde eine große Zahl von Angriffen
auf viele Ziele nötig machen", sagt der israelische Sicherheitsexperte
Schlomo Brom. Das überfordere die Kapazitäten der israelischen Luftwaffe. Diese
könne zwar Ziele in Iran erreichen, sei aber nicht in der Lage, über mehrere
Tage massive Angriffe durchzuführen, erklärt der israelische Experte Reuven
Pedatzur. Israels Kampfjets könnten höchstens einmal hin und zurück fliegen.
Doch selbst wenn die Luftwaffe besser ausgerüstet wäre, würden Militärschläge
nicht zum Erfolg führen. Es gäbe nämlich zu wenig präzise Informationen über
die Standorte der Anlagen, so Pedatzur. Zudem sei noch kein schlagender Beweis,
keine "smoking gun", gefunden worden. Nicht zu unterschätzen sei auch
die Gefahr, dass Teheran über seinen Statthalter im Libanon, die
Hisbollah-Milizen, zurückschlägt. Die von Iran finanzierte Schiiten-Armee
verfügt über Raketen, welche Haifa treffen könnten. Dieses Risiko wird heute
als bedeutend gravierender eingeschätzt als die Gefahr eines iranischen
Atomangriffs.
Kein israelischer Alleingang
Weil ein Alleingang auf erhebliche Schwierigkeiten stieße, will die israelische
Diplomatie vorerst den Westen (und vor allem die USA) überzeugen, dass die
iranische A-Bombe nicht nur Israel, sondern auch Europa bedroht. Ein
militärischer Angriff, so die Überzeugung israelischer Politiker, müsste
deshalb von den USA ausgeführt werden. Israel ist höchstens in der Lage, mit
gezielten Einzelaktionen die iranischen Atompläne zu verzögern. Schoval, der
früher für den israelischen Geheimdienst gearbeitet hat, denkt deshalb laut
über verdeckte Sabotage-Operationen des Mossad in Iran nach, mit denen der
Zeitplan der iranischen Atomstrategen durcheinandergebracht werden soll. So
wird in Tel Aviv bereits darüber spekuliert, ob der Mossad hinter dem Absturz
eines iranischen Flugzeugs steht, bei dem Mitte Januar General Achmad Kazemi,
der Leiter der iranischen Revolutionsgarden und Luftwaffenchef, zusammen mit
hohen Offizieren ums Leben kam. Selbst wenn die Mossad-These abenteuerlich
anmutet, kann als sicher gelten, dass Israel im Atomstreit mit Iran einen
wichtigen Sieg in der Verzögerungsstrategie verbuchen kann. Kazemi war
verantwortlich für Produktion und Entwicklung der iranischen Schihab-Raketen.
Noch sind sich die westlichen Geheimdienste uneinig, wann die Mullahs die
A-Bombe zu ihrem Arsenal zählen können. In wenigen Monaten werde es so weit
sein, behaupten die einen, es wird noch viele Jahre dauern, widersprechen
andere.
Es drohen neue Spielregeln im Nahen Osten
Ein Studium der geheimdienstlichen Linguistik bringt Klärung in die
widersprüchlichen Angaben. Für Israels militärischen Geheimdienst ist der
"point of no return" entscheidend, und der könnte bereits in wenigen
Monaten erreicht sein. Dann wird Iran in der Lage sein, genügend spaltbares
Material für den Bau von Atomwaffen zu produzieren. Für andere Experten ist
aber die Frage relevant, wann das Land technisch in der Lage sein wird, die
A-Bombe zu bauen. Das werde noch zwei Jahre dauern, meinen israelische
Iran-Spezialisten. Dabei unterstellen sie aber die unrealistische Annahme, dass
das iranische Atomprojekt bis ins Jahr 2008 mit keinerlei Problemen
konfrontiert sein wird. Bereits kleine Pannen können aber zu erheblichen
Verzögerungen führen.
Viele Experten richten sich deshalb nicht nach dem theoretisch kürzest
möglichen Zeitpunkt. Das Londoner International Institute for Strategic Studies
(IISS), das von fünf Jahren spricht, berücksichtigt eine Reihe von technischen
Hindernissen, die zu überwinden sind, um genug waffenfähiges Nuklearmaterial
herzustellen. Amerikanische Fachleute vom National Intelligence Estimate (NIE)
finden angesichts der noch zu erwartenden Schwierigkeiten allerdings auch
diesen Termin unrealistisch. Sie nehmen an, dass Iran nicht vor dem Jahr 2015
über die A-Bombe verfügen werde.
Aus Risikoüberlegungen betrachten Israels Politiker den frühestmöglichen
Zeitpunkt für relevant, auch wenn er kaum realistisch ist. Bereits die
Tatsache, dass Iran eines Tages zur Atommacht aufrücken könnte, sorgt nämlich
für neue Spielregeln in der Krisen-Region Mittlerer Osten. Mit der erwarteten
Bombe im Rücken könnte der Gottesstaat versuchen, seinen Einfluss bei den
Nachbarn mit Drohgebärden zu erhöhen, in der Opec noch höhere Ölpreise
durchzusetzen oder seinen destabilisierenden Einfluss auf den
israelisch-palästinensischen Konflikt weiter zu verstärken, um die
Wiederaufnahme des Friedensprozesses zu torpedieren.
Optimisten setzen darauf, dass Iran als Atommacht die Spielregeln
aus dem Kalten Krieg akzeptieren und auf den Einsatz der Nuklearwaffe
verzichten würde. Es gebe allerdings zwischen Iran und Israel kein
Gleichgewicht des Schreckens, sagt Ephraim Sneh, ehemaliger stellvertretender
Verteidigungsminister. Zwischen den beiden Ländern gibt es keine Symmetrie -
weder bezüglich der Zahl der Bevölkerung noch der Größe des Landes. Anders als
Israel könnte Iran empfindliche Militärschläge hinnehmen, ohne in der Existenz
getroffen zu sein.
Aufgrund ausländischer Quellen ist zwar davon auszugehen, dass der jüdische
Staat über Zweitschlagkapazitäten verfügt. Kaum diskutiert wurde gemäß Melman
aber die Frage, ob Israel einen Nuklearangriff überleben könnte. Die letzte
bekannte Studie zu diesem Thema stammt aus dem Jahre 1982. Je nach Wetter und
Windströmungen wäre mit bis zu 300.000 Toten zu rechnen, hieß es damals.