Patrick Kulow -l-iz.de- 27.11.2014 – Genauso unterschiedlich, wie "wir Deutschen" sind, genauso unterschiedlich sind auch "die Flüchtlinge", die immer nur als eine Masse gesehen werden. Ein Blick in das Leben einzelner Asylsuchender, in ihre Erlebnisse, ihre Ängste, ihre Sorgen. Im Interview: zwei Asylsuchende aus der Türkei, geboren 1980 und 1981. Im Jahr 2001 die gemeinsame Flucht der Geschwister nach Deutschland. Seitdem leben sie in einer Gemeinschaftsunterkunft im Landkreis Leipzig.
Wie sieht euer Tagesablauf aus?
A: Fast jeden Tag das Gleiche. Ich mag Deutschland, aber leben im Heim ist wirklich schwer und macht richtig krank. Wir alle sind krank geworden. Ausländerbehörde hilft uns auch nicht. Egal, wegen Wohnung immer nein.
B: Wir sind seit 11 Jahren hier und haben nie Spaß gehabt. Ich habe meine Heimat verlassen, um ein neues Leben anzufangen. Aber als ich nach Deutschland kam, war mein Leben ganz zu Ende. Ich wollte leben, aber in Deutschland kann ich nicht leben. Meine Zeit ist jetzt weg. Jetzt sind wir 11 Jahre im Heim.
Wie kann man sich das vorstellen? Jeden Tag das Gleiche. Aufstehen, gleiche Leute sehen, besoffene Leute im Heim. Ich weiß es nicht, wie ich es sagen soll. Jeden Tag darf ich nicht raus gehen, nicht arbeiten, ich darf nicht zu meiner Familie, nicht Freunde besuchen. Einfach ich lebe in einem Knast. Ich habe keine Chance zum Leben. Deswegen bin ich von meiner Heimat weg. Ich habe dort meine ganze Familie verloren. Meine Eltern und meine Geschwister. Wir sind jetzt nur noch drei.
Niemand hört uns hier. Wir gehen zur Ausländerbehörde und erzählen alles, aber niemand hört uns. Die andere Religionen im Heim lachen über mich wie ein Hund. Viele Leute in Türkei haben damals immer gesagt, wir wären Satan. Die haben keinen Glauben – die müssen wir umbringen. Hier ist das genauso. Ich bin Jeszide. Aber ich bin auch ein Mensch und habe auch meinen Gott. Aber im Heim beleidigen sie uns.
2005 haben sie meinen Cousin in die Türkei abgeschoben. Die Polizei hat ihn dort nach 6 Monaten getötet, aber niemand hört das. Ich habe in der Türkei keine Chance zum Leben. Hätte ich dort eine Chance, würde ich nicht einen Tag hier im Heim bleiben.
Was denkst du, was passiert, wenn du in die Türkei abgeschoben wirst?
B: Da passiert alles. Deswegen bin ich in dem Heim. Ich habe dort keine Chance zum Leben. Ich war Kind, 3 Jahre alt, da haben sie meinen Vater getötet.
A: Ich sage immer, Deutschland ist sehr, sehr gut. Aber ich hasse Leben im Heim und ich hasse Ausländerbehörde. Eigentlich arbeiten die für uns, aber das glaube ich nicht. Sie helfen nicht. Ich weiß, sie können nicht alles machen, aber ein bisschen helfen. Sie machen alles nur schlecht für die Leute. Wegen viele Probleme habe ich mein Land verlassen, mit dem Gedanken, nie wieder zurück zu gehen. Einfach ruhig leben.
Was ist für euch am schwierigsten im Heim?
A: …ein kleines Dorf. Gibt es viele Probleme hier. Für einkaufen, Arzt immer fahren nach Stadt. 11 Jahre ich bin hier und kenne nicht viele Leute.
B: Ich kenne viele Kakerlaken und Maus. Mit vielen Tieren leben wir hier im Heim.
Habt ihr Freunde im Heim gefunden?
A: Nein, alle kommen aus einem anderen Land und reden andere Sprache. Für andere auch schwer. Essen, schlafen, aufstehen.
B: Wenn das Heim in Leipzig ist, kann man leben oder in einer Stadt, aber nicht auf Dorf. Bis 2005 ist kein Deutscher zu uns gekommen. Alle im Dorf gucken böse.
Was habt ihr euch damals von Deutschland erhofft?
B: Wir haben damals gehört, dass mein Bruder auch hier in Deutschland ist. Wir haben gedacht, hier können wir leben. Damals waren wir nur noch zu dritt. Alle Geschwister waren weg. Das mit dem Heim haben wir nicht gewusst.
A: Wir haben gedacht, hier können wir alles machen. Aber jetzt, ohne Urlaubsschein kannst du nicht nach Leipzig. Das ist alles wie Knast.
B: Ich wollte die Türkei verlassen, um zu leben. Ich wollte arbeiten und mit meinen Geschwistern leben. Und jetzt bin ich hier.
Welche Krankheiten/gesundheitlichen Probleme habt ihr?
A: Ich war 3 Monate in Zschadraß, weil ich Depressionen bekommen habe. Weil ich Angst habe, dass die Polizei kommt und mich nach Türkei bringt und weil das Heim so schlecht ist. Jetzt gehe ich immer noch zum Psychologen. Mir geht es besser als früher, aber weg ist es nicht.
B: Ich war auch in Zschadraß, aber ich bin abgehaun. Ich habe zum Arzt gesagt, das Krankenhaus macht mich noch verrückter. Seit 2007 befinde ich mich in Behandlung bei einer Psychologin in Geithain. Von Termin zu Termin und immer Tabletten. Wenn ich weg vom Heim bleibe, geht es mir besser. Auch die Ärzte sagen, das Leben im Heim macht mich kaputt. Ich habe Panikattacken und Depressionen.
Was war das schlimmste Erlebnis in den 11 Jahren?
A: Heim und Ausländerbehörde.
B: Es kann immer was passieren. Ich habe hier viel gesehen. Die Nazis wollten hier 2003 und 2004 zweimal das Heim verbrennen, mit allen Leuten. Die kamen hier rein und haben die Leute geschlagen.
Habt ihr im Alltag Probleme, weil ihr Ausländer seid?
B: Ja. Immer Kanake. Wenn man in eine Disco will, sagen die Türsteher immer: »Du passt hier nicht rein.«
A: Manche Deutschen gehen weg von mir und wollen keinen Kontakt. Aber ich lass so. Das ist egal.
Wie seht ihr eure Zukunft, falls ihr einen sicheren Aufenthalt in Deutschland bekommt?
A: Oh, ein schönes Gefühl. Das bedeutet, ich bekomme alles wieder zurück. Ich kann alle Problem vergessen, alles hinter mir lassen. Ich will lernen und zur Schule gehen. Das bedeutet, ich bekomme mein Leben wieder.
B: Ich kann nicht antworten, weil ich glaube das nicht. Ich habe meinen Glauben verloren. Wenn ich jetzt krank bin, was mache ich mit dem Aufenthalt? Wenn du nur halber Mensch bist, kannst du nicht arbeiten, nicht heiraten. Alle Träume weg. Wenn ich bekomme, dann will ich arbeiten, meine Musik weiter machen, heiraten und eine Familie machen.
Wie wichtig ist euch euer Glauben?
B: In der Türkei müssen wir wie Moslem sein und in Deutschland müssen wir wie Christ sein. Ich weiß nicht, wie ich das ohne meine Familie machen soll. So oder so kann ich meinen Glauben nicht leben. In der Türkei damals hatten wir vor allem Angst. Wir haben alles verloren. Wir haben alles gehabt. Die ganze Familie war Musiker. Wir hatten richtig viel Geld gehabt. Aber wir haben alles verloren. Und hier verlieren wir immernoch weiter. Alle Leute hier schreien, aber hören tut sie keiner.
Wisst ihr, warum es die Sondergesetze für Ausländer gibt?
A: Ich weiß nicht, warum. Aber ich habe mich tausend mal gefragt, warum. Wenn wir fragen, warum, sagen sie nur Gesetz. Ich dachte, Deutschland ist demokratische Land, aber ich verstehe nicht, warum. Deutschland muss die Leute nicht sterben lassen.
B: Ich weiß auch nicht warum. Damals kam eine Frau von der Ausländerbehörde und hat gesagt, mir macht es Spaß, Leute abzuschieben. Ich bin verrückt geworden. Wie kann es Spaß machen, mit Leben zu spielen?
Wie schätzt ihr den Gesundheitszustand von eurem Bruder ein?
B: Das ist ganz verrückt. Er hat in 3 Monaten zweimal versucht, sich umzubringen. Wir haben immer Angst, dass er es nochmal versucht. Er redet nicht mit uns und will immer alleine sein. Ich weiß nicht, was er will.
A: Im letzten Monat hat er einen Brief bekommen und hat es nicht geschafft, ihn zu lesen. Er will keinen guten Brief und keinen schlechte Brief. Wenn Briefe kommen, bekomme ich Panik.
Von wem habt ihr in Deutschland Hilfe bekommen?
B: Niemand. Ein kurdischer Junge aus Irak hat uns manchmal geholfen. Wenn wir zur Ausländerbehörde gegangen sind und einen Dolmetscher brauchten, sagten sie immer Nein. Musst du deutsch lernen. Ich kann immer noch nicht so gut deutsch sprechen. Ich habe keinen Weg zum Lernen. Hier redest du nur in deiner Sprache. Würde ich in einer Stadt leben, wäre das anders.
Welches Gefühl war es, immer nach seinen Fluchtgründen gefragt zu werden? War es möglich, mit fremden Leuten darüber zu sprechen?
A: Ja, das war schwer. Ich hatte Angst aber manche Leute haben gesagt, du musst alles erzählen.
B: Ich habe auch nicht alles erzählt.
Gibt es etwas, was du der Welt da draußen sagen willst?
A: Ich will viel sagen, aber ich darf nicht immer alles sagen.
B: Die Deutschen wissen nichts, sie sollen zu uns kommen und mit uns Kontakt machen und so lernen sie, warum wir hier sind. Wenn wir keine Probleme hätten, würden wir nicht unser Land verlassen. Ich will auch sagen, wir brauchen Hilfe von Deutschen.
A: Einmal habe ich eine Frau im Zug kennen gelernt. Sie hat mich gefragt, wo ich her komme. Ich habe gesagt, aus der Türkei. Sie hat gesagt: Oh, schönes Land und sie war so fröhlich. Ich habe gesagt, ja, das Bild ist schön, aber wenn bleibst du für immer, siehst du welche Probleme du kriegst. Dann hat sie gesagt, ach Quatsch, ich war im Urlaub in Antalya und dort war es schön. Sie hat nichts geglaubt.
Information zum Interview: Dieses hier nur in gekürzter Form wiedergegebene Interview wurde im April 2012 mit zwei Asylsuchenden, die beide in einer Gemeinschaftsunterkunft im Landkreis Leipzig untergebracht sind, auf Deutsch von ehrenamtlichen Mitarbeitern des Bon Courage e.V. geführt. Trotz der Angst der Asylsuchenden vor späteren Konsequenzen waren diese bereit, die Gespräche zu führen und stimmten einer anonymisierten Veröffentlichung zu. An der Lebenssituation der Flüchtlinge hat sich seitdem nicht viel geändert. Das Thema ist genauso aktuell wie vor zwei Jahren. Das vollständige Interview mit diesen beiden und vielen weiteren Asylsuchenden finden Sie in der Broschüre "Von außen sieht es nicht so schlimm aus …" des Bornaer Bon Courage e.V.
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