Der Geschmack von Freiheit

14.02.2015 – Frankfurter Rundschau – Von Hannah Weiner: Im Iran, wo Gotteslästerung mit dem Tod bestraft werden kann, Frauen wegen westlicher Kleidung Auspeitschung droht und das Wort Allahs Gesetz ist, hat sich die Elite kleine Oasen der Selbstbestimmung erkauft.

Feucht-schwerer Nebel hängt über der kleinen Stadt Shahrake D., die sich aus der Dämmerung erhebt. Der vollständige Name des Ortes im Norden Irans muss geheim bleiben. „Das wäre sonst für uns alle zu gefährlich“, sagt Iman schon zum dritten Mal in die Stille des Autos hinein. Seit einer Woche begleitet der 31-Jährige uns, drei deutsche Touristinnen, durch sein Heimatland Iran. Eine Überraschung warte hier, hatte er versprochen, bevor wir in der Hauptstadt Teheran losgefahren sind.

Der Iran ist ein von Mullahs beherrschtes Land. Frauen sind hier gesetzlich zum Hidschab, der islamisch begründeten Verhüllung, verpflichtet. „Geht lieber kein Risiko ein“, hat Iman immer wieder betont. Auch Touristinnen sollten sich bedeckt und im Hintergrund halten, denn schon Rauchen in der Öffentlichkeit gilt manchmal als Provokation. Verstöße gegen diese Regeln können hoch bestraft und Frauen im schlimmsten Fall ausgepeitscht werden, wenn sie sich freizügig kleiden oder unsittlich verhalten.

Daran haben wir uns die vergangenen acht Tage ausnahmslos gehalten. „Ihr dürft eure Kopftücher jetzt abnehmen“, sagt Iman auf einmal. Wir sind in Shahrake D. angekommen.

Urlaub jenseits der islamischen Gesetze
Die kleine Stadt mit rund 400 Häusern liegt im Norden Irans zwischen Elburs-Gebirge und Kaspischem Meer. Sie ist fünf holprige Autostunden von Teheran entfernt. Von der Hauptstraße sind wir in einen unauffälligen Feldweg eingebogen. Gesäumt von Wald und Gestrüpp endet die schmale Straße an einer Schranke mit Checkpoint. Ab hier, versteckt und unscheinbar, beginnt sie: eine der verborgenen Seiten der Islamischen Republik.

Als der weiß-rote Holzbalken hochfährt und eröffnet sich eine Welt, die selbst viele von Imans Landsleuten nie kennenlernen. Vor uns liegt eine Gated Community, ein geschlossener, exklusiver Wohnkomplex. Die Schranke passieren darf nur, wer ein registriertes Nummernschild und eine Identifikationskarte wie Iman hat.

Hier verbringt die reiche und liberale Elite der Gesellschaft ihren Urlaub, jenseits der islamischen Gesetze. Unsicher streifen wir die grauen Schals vom Kopf in den Nacken und krempeln die Ärmel hoch.

Eine Woche reisen wir bereits durch den Iran. Rund um die Uhr haben wir unseren Hidschab getragen, wohl wissend, dass auf europäische Reisebekleidung hohe Strafen stehen können. Ob beim Wasserpfeife rauchen, beim Spaziergang am Meer, in Restaurants, im Auto und in Museen – Kopftuch und weiter Mantel waren unsere ständigen Begleiter. Oft hatten wir Angst, dass der Schal im falschen Moment verrutscht, man uns am falschen Ort rauchen sieht oder wir etwas Falsches sagen. Die Sittenpolizei ist mit ihren unvorhersehbaren Kontrollen allgegenwärtig.

Selbst nachts im Bus kamen Männer in Uniform und überprüften die Kleidung der Reisenden. Auf einmal sollen diese Regeln nicht mehr gelten? Iman, der seit fünf Jahren in Deutschland studiert, und uns seit der Ankunft in Teheran begleitet, nickt ermutigend: „Hier könnt ihr sein wie ihr wollt.“

Hier – das ist eine von etwa 30 kleinen Städten im Norden des Landes, die an die Gated Communities in Südafrika erinnern: abgegrenzt durch hohen Stacheldrahtzaun, Schranken und Sicherheitsdienst. Hier – das ist ein exklusiver Ort, zu dem ohne entsprechende Kontakte der Eintritt verwehrt bleibt.

Hier – das ist weitab von Geheimdienst und Sittenpolizei des konservativ-islamischen Führers Ajatollah Chamenei. „Wer genug Geld hat“, sagt Iman, „kann sich hier eine Auszeit nehmen.“

Die Einwohner dieser Städte setzen die islamischen Gesetze auf eine gewisse Art außer Kraft, erklärt er. Schweigen und Toleranz der örtlichen Polizei und Behörden würden erkauft. Ob die politische und religiöse Obrigkeit wirklich nicht weiß, wie man hier lebt oder ob sie es inoffiziell duldet, bleibt jedoch unklar.

„Das hier ist ein Labor, in dem getestet wird: Wie schmeckt Freiheit?“

Bei einem Spaziergang durch Shahrake D. weht uns erfrischender Wind die offenen Haare ins Gesicht. Während wir durch die Straßen laufen, fühlen wir uns zum ersten Mal auf unserer Reise frei. Keine kritischen Blicke, kein hektisches Richten von Mantel und Kopftuch, keine Angst vor der Sittenpolizei. Links und rechts der spärlich beleuchteten Straße reihen sich Häuser aneinander, mal klein und unscheinbar, mal palastähnlich und pompös.

Iman grinst: „Auch für mich ist das hier Genuss, aber für meine Mutter und Schwester natürlich noch viel mehr.“ Dass die Welt jenseits der Grenze besonders für Frauen eine Wohltat ist, erzählt auch die 34-jährige Schirin. Sie ist Imans Nachbarin. „Wenn ich hier bin, genieße ich jede Sekunde“, sagt sie. Ihre Bermudahose reicht nur bis kurz unter die Knie, das T-Shirt zeigt ihre schlanken Arme. Die langen, schwarzen Haare glänzen unter dem Licht der Straßenlaterne. So wie Schirin jetzt aussieht, würde sie außerhalb dieses Ortes die Sittenpolizei auf den Plan rufen. „So von Frau zu Frau“, lacht sie, „ich verbringe lieber eine Stunde mehr hier, als Shoppen zu gehen.“

Ihre Schwiegermutter, eine ältere Frau mit weisen Augen und feinen Linien im Gesicht, fügt hinzu: „Das hier ist ein Labor, in dem getestet wird: Wie schmeckt Freiheit?“

Eine Frau erzählt, sie sei lieber eine Stunde in Shahrake D. als Shoppen zu gehen. (Symbolbild)  Foto: Hannah Weiner
Iman erzählt von der Entstehung der besonderen Städte. Mitte der neunziger Jahre hat eine Gruppe von Beamten die Gated Communities erst nur für sich und ihre Familien gegründet. Sie wollten fernab von Druck und Dreck der Großstadt den Ruhestand genießen. Die Idee: weniger Kontrolle, mehr Privatsphäre, mehr Freiheit. Bald begannen sie Grundstücke an andere Auserwählte zu verkaufen, an Menschen, die sie mochten und die es sich leisten konnten. Manche der Ferienorte sind inzwischen so groß wie deutsche Kleinstädte.

Andere, wie Shahrake D., bleiben überschaubar. „Deswegen ist es so geschützt und privat, wie nirgendwo anders“, sagt Iman fast ein bisschen stolz. Alle Grundstücke hier seien bereits verkauft und schon jetzt rund zehn der Ferienhäuser sogar dauerhaft bewohnt. Bei umgerechnet 100 000 bis 150 000 Euro beginnen die Preise für ein Stück Land. Das kann sich nur weit weniger als ein Prozent der Iraner leisten. Ausschweifende Parties, illegaler Alkohol, öffentliches Tanzen – all das kann, so erzählt Iman, in Form von ein paar hundert Quadratmetern erkauft werden. 1995 erstand seine Familie hier Boden und baute eines der ersten Ferienhäuser, die „Villen“ genannt werden. 350 Quadratmeter misst ihr Grundstück, in dessen Mitte ein unscheinbares, einstöckiges Gebäude steht.

Die Bedeutung des Wortes Villa zielt hier nicht auf Prunk und zur Schau gestellten Reichtum ab. Es geht um etwas anderes: Freiheit ist der wahre Luxus, ein selbstbestimmtes Leben ist der iranische Reichtum. Manchmal und unter einem gewissen Risiko könnten sich Frauen hier sogar im Bikini im Garten sonnen, sagt Iman. Unvorstellbar – nicht nur, weil gerade Winter ist, sondern auch, weil das nicht in das Bild von in schwarze Tschadors gehüllte Frauen und Werbetafeln für Vollverschleierung im Rest des Landes passt.

„Alles, was wir hier machen, ist illegal“

„Die Leute kommen aus der Hölle her so oft sie können“, fährt Iman fort. Die Hölle – damit meint er Teheran. Große Teile der Hauptstadt sind laut, grau und chaotisch. Die Regeln des Mullah-Regimes sind dort besonders erdrückend. Im Vergleich zur Hauptstadt ist Shahrake D. wirklich der Himmel. Diese Station unserer Reise durch die Islamische Republik ist ein Ort zum Durchatmen. In diesem Land, in dem das Private geheim und das Öffentliche unter den strengen Augen der religiösen Führer stattfinden muss, wo die Aussagen von Frauen vor Gericht nur die Hälfte zählen und protestierende Studenten, wie Iman, verhaftet und gefoltert wurden.
In diesem Land entstehe hier im Sommer jede Nacht durch die Mischung aus „Toleranz, Risiko und Geld“ eine Oase der Freiheit, sagt Iman. Das Herz der Gated Communities, erzählt er, sind große Partys unter freiem Himmel. „Alles, was wir dann hier machen, ist illegal.“ Dann tanzten bis zu 200 Menschen aller Altersklassen zu lauter persischer und westlicher Popmusik. Es gebe Alkohol und manchmal kämen sogar DJs.

Wir werden diese Party nicht miterleben können, denn wir bleiben nur eine Nacht und das im Winter. Aber in unserer Vorstellung tanzt eine junge Iranerin mit ihrem Freund unter dem Sternenhimmel bis in die Morgenstunden. Kopftuch, Mantel und alle anderen Zwänge hat sie Zuhause gelassen.
Ein letztes Mal fahren wir nach einer kurzen Nacht am nächsten Morgen viel zu schnell mit lauter Musik und offenen Fenstern durch die Straßen der kleinen Stadt. Wir atmen tief durch. Ganz gerecht ist das nicht, Freiheit für die reiche Elite. Aber verurteilen können wir es auch nicht, dafür haben wir sie zu sehr genossen. Wir verabschieden uns von Shahrake D., wickeln die Schals um den Kopf, richten den Mantel und krempeln die Ärmel herunter. Dann passieren wir die Schranke zurück in die iranische Realität.

AUTOR

Hannah Weiner Autorin, Frankfurt/Rhein-Main
Hannah Weiner
Autorin, Frankfurt/Rhein-Main

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