Iran damals und heute

© Atta Kenare/Getty Images

03. Juni 2015- theeuropea.de- von Sören Heim: Im Juni 2009 gingen in Iran Hunderttausende auf die Straße. Fast vergessen scheint dieser Protest, der bis heute anhält, jedoch im westlichen Kompromissstreben untergeht. Sechs Jahre ist es her.

Als ich es bei Recherchen für einen Artikel in der Wikipedia nachschlage, kann ich es nicht glauben. Sechs Jahre diesen Juni. 2009 zogen, im Anschluss an – aller Wahrscheinlichkeit nach gefälschte – Wahlen, in Teheran und weiteren iranischen Großstädten Hunderttausende durch die Straßen und protestierten. Erst ging es um Neuwahlen, dann um weitergehende Freiheiten in der islamistischen Diktatur, schließlich um den Sturz der Herrschaft.

Die Unterstützung der Proteste vonseiten westlicher Staaten fiel zaghaft aus, neben Lippenbekenntnissen konnte man sich erst spät gegen starke Widerstände zu einigen Sanktionen durchringen. Wenn heute etwa in den kurdischen Gebieten Irans weiterhin gegen das Regime protestiert wird, erfährt man davon in der Mainstream-Presse kaum etwas. Russland, die neuesten Falschmeldungen über den israelischen „Apartheidsstaat“, und Lobhudeleien auf „Reformer“ Rohani übertönen den unbequemen Ruf nach Freiheit aus dem Bauch eines prospektiven Verbündeten im Kampf gegen IS und andere islamistische Warlords.
Es ist diese Zögerlichkeit und das sehr selektive Beharren auf „westlichen Werten“ auch während des Arabischen Frühlings und in der Türkei, die mich heutigen Beschwörungen der viel zitierten Werte zurückhaltend gegenüberstehen lässt.
Zwischen Träumen von Freiheit und Modernitätsskepsis
Sechs Jahre ist es auch her, dass mich eine gute Freundin im Anschluss an Solidaritätskundgebungen für iranische Demonstranten zum ersten Mal mit der Lyrik der 1967 jung verstorbenen Forugh Farrochsad in Berührung brachte. So viel von dem, was sich in den Protesten Bahn brach, findet sich auch in den Versen der Lyrikerin wieder, deren Rezeption auch heute in Iran staatlicherseits immer wieder stark eingeschränkt wird. Farrochsads Voraussetzungen zu schreiben, hatte die Weiße Revolution Mohammad Reza Pahlavis mit ihrer oberflächlichen Liberalisierung der Gesellschaft erst geschaffen, aus ihren Gedichten sprach aber immer auch das Leid an patriarchalen Zuständen und den Schattenseiten der Modernisierung. In eine gutbürgerliche Familie geboren, oszillierte Farrochsad zwischen der Hoffnung auf die versprochenen Freiheiten der bürgerlichen Gesellschaft und einer tiefen Skepsis gegenüber den Möglichkeiten der Verwirklichung dieser.
„Nach dir, als wir noch unterm Tisch zu spielen pflegten / Krochen wir unter den Tischen hervor … / Stiegen auf die Tische / Spielten auf den Tischen“, schreibt Farrochsad in „Nach Dir“. Und weiter: „Es heulte der Wind … / Und plötzlich fiel mir ein, wie deine jungen Staaten / Den Überfall der Heuschrecken so sehr fürchteten / Wie viel hat man zu zahlen“. Doch solchen zivilisationsskeptischen Versen stehen zärtliche Feiern der romantischen Liebe entgegen, ebenso wie eindringliche Emphasen der kleinen Freiheiten und Annehmlichkeiten: „Einer kommt aus dem Feuerwerk am Himmel / des Kanonenplatzes / Breitet das Tischtuch aus / Und teilt das Brot aus / Teilt Pepsi-Cola aus … / Teilt Karten aus fürs Kino von Fardin“.
Die lange kalte Jahreszeit
Viel glaubte ich bei meiner ersten Lektüre im Jahr der schicksalsträchtigen Wahl von Elementen des amerikanischen Beats bei Farrochsad zu finden: dieselbe über Langzeilen im Atemrhythmus gesteuerte tänzelnde bis predigende Sprachmelodie, dieselbe Bereitschaft, die zeitgenössische Welt als „beste aller Welten“ zu umarmen, gleichzeitig eine ähnliche innere Distanz gegenüber dieser eigenen Haltung. Und nicht zuletzt vergleichbare Untergangsvisionen, die sich bei Farrochsad in Zeilen wie den folgenden ausdrücken: „Und die Leute, die beim Schlachthaus wohnen / Deren Garten blutig ist … / Warum tun die nichts“. In den unerwartetsten Momenten wirkt es, als springe die islamische Republik den Leser bereits aus den Gedichten Farrochsads an.
Doch diese sind so viel reicher, so viel tiefer als eine Reduktion auf Politisches oder Sozialkritik, auch als es der Vergleich mit der Beat-Dichtung erfahrbar machen würde. Farrochsad war von der europäischen und amerikanischen Moderne beeinflusst, die sie sich vor dem Hintergrund der reichhaltigen persischen Dichtungstradition in einer bis dahin unerhörten Schreibweise aneignete. Die komplexen musikalischen Klangstrukturen, die Farrochsads Werk prägen, ohne dass es dabei ins Süßliche zu kippen drohte, lassen sich nur ahnen, wenn man sich den einen oder anderen Text im persischen Original zumindest einmal anhört.
Die Bombe, die Iran stabilisieren kann
Sechs Jahre sind seit den ersten Protesten 2009 vergangen. Und für die iranische Bevölkerung hat sich seitdem nichts zum Besseren gewandelt. Während man im Westen Rohani lobt und noch immer nicht wahrhaben will, dass die eigentliche Macht bei Ayatollah und Wächterrat konzentriert ist, während man diplomatisch an einem Atomkompromiss arbeitet, der den Sturz des Regimes in weite Ferne, die Bombe, die dieses auf Jahrzehnte stabilisieren könnte, immer näher rücken lässt, sind Tausende Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer politischen Haltung hingerichtet worden. Wie viele in den Kerkern der islamischen Republik schmoren, ist unklar. Dass auch Farrochsads Dichtung weiterhin angegriffen wird, ist dagegen eine geschichtliche Randnotiz. Dass sie unter der Hand häufig gelesen wird, ein kleiner Lichtblick.
Farrochsads Lyrik habe andere beeinflusst, sie aber werde vergessen, so der befreundete Nader Naderpur einst über die Dichterin. Er behielt unrecht. Damit auch Farrochsads eigene Zukunftsvision, die sie 1967 in „Glauben wir nur an den Beginn der kalten Jahreszeit“ formulierte, nicht ewig Bestand hat, bleibt es unabdingbar, den Blick weiterhin auf die Entwicklungen in Iran zu richten, die angesichts der raschen medialen Aufmerksamkeitsverlagerung von Krise zu Krise allzu schnell in Vergessenheit geraten. Farrochsad schrieb:
„Glauben wir nur an den Beginn der kalten Jahreszeit
Glauben wir nur an die Verwüstung
In den Gärten unserer Fantasie 
An die Sensen, die untätig auf dem Kopf stehen
Und an die gefangenen Saatkörner
Sieh nur, wie es schneit . . .

Alle Zitate nach: Forugh Farrochsad. Jene Tage. Suhrkamp: Frankfurt 1993
von Sören Heim 03.06.2015

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.