07.07.2017 – Der Standard- Über asketische Ideale und die Angst vor der Rückkehr des inzestuösen Urvaters Ausgehend von Freuds Spekulationen über den Ursprung der menschlichen Gesellschaft hatte ich im letzten Blogbeitrag “Freud und der Sex im schiitischen Islam” den Zusammenhang zwischen Sexualität und Gesellschaft, zwischen politischen und sexuellen Revolutionen zu analysieren versucht.
Am – oder besser vor dem – Beginn der “Kultur” steht für Freud die Urhorde, jene Urform der Gesellschaft, dessen unumschränkter Herrscher, der Urvater, nach Vertreibung aller Söhne sämtliche Frauen der Horde besaß. Eines Tages rotteten sich die Söhne zusammen um den Urvater zu ermorden – und selbst in den Besitz und den Genuss der Frauen zu kommen.
Mit Freud und über Freud hinaus hatten wir drei mögliche Ausgänge jener fiktiven – sexuellen und politischen – Ur-Revolution herausgearbeitet. Den ersten nannten wir “Tyrannei des Über-Ichs”:
Die Söhne, die den Urvater nicht nur gehasst, sondern auch bewundert, vielleicht auch geliebt hatten, werden von Schuldgefühlen und Reue überwältigt. Als Gott wird der tote, verinnerlichte Urvater mächtiger als der Lebende. Es entsteht die – von asketischen Idealen dominierte – “Kultur”. Ausgang Nummer zwei: Einer der Söhne – oder eine Gruppe von ihnen – übernimmt die Herrschaft und wird zum neuen Urvater – beziehungsweise zu den neuen Urvätern. Womöglich mit noch mehr Macht ausgestattet als der erste.
Diesen Ausgang nannten wir: “Rückfall ins Ur-Patriarchat”. Ausgang Nummer drei, der wie Ausgang Nummer zwei von Freud nicht in Erwägung gezogen wird – jedenfalls nicht explizit:
Die “Ur-Revolution” hatte nicht nur die Beseitigung des Urvaters zum Ziel. Sondern das Brechen jener fixen Verknüpfung zwischen Herrschaft und sexuellem Genuss, anders gesagt: Die Abschaffung des Patriarchats. Diesen Ausgang nannten wir “Befreiung der Liebe”.
Das Urhorden-Schema Wir hatten dann die Geschichte der Französischen und der Russischen Revolution mit diesem unserem Urhorden-Schema konfrontiert. Und in weiterer Folge gesehen, wie in der Iranischen Revolution des Jahres 1979 das Moment der “Befreiung der Liebe” und jenes des “Rückfalls ins Ur-Patriarchat” aufeinander geprallt waren. Als am 8. März 1979 zehntausende iranische Frauen gegen die drohende Einführung des Kopftuchzwangs demonstrierten, wurden sie von Anhängern der neuen islamischen Machthaber vor eine klare Alternative gestellt: “Ya rusari – Ya tusari”, zu Deutsch:
“Entweder Kopftuch – Oder Schläge auf den Kopf”. Sie antworteten: “Weder Kopftuch – Noch Schläge – Es lebe die Freie Liebe”. Auf die von den Frauen artikulierte Angst vor seiner Rückkehr hatte die Stimme eben jenes Ur-Patriarchats geantwortet – um ihre Angst zu bestätigen: “Entweder Kopftuch – Oder Schläge”. Sollte die Reproduktion des Ur-Patriarchats als Institution irgendwo in der Gegenwart tatsächlich existieren, ist die Praxis der Zeitehe im heutigen Iran der exemplarische Fall davon.
Die Zeit- oder Lustehe ist eine im schiitischen Islam erlaubte, rasche und unbürokratische Form der Eheschließung – für die Dauer von einer halben Stunde bis zu 99 Jahren, die vom herrschenden religiösen Establishment im Iran mit dem erklärten Ziel, Prostitution und “westliche Dekadenz” zu bekämpfen, tatkräftig gefördert wird. Der typische Zeit-Ehemann, so Sudabeh Mortezai, Regisseurin von “Bazar der Geschlechter”, ein Dokumentarfilm über die Zeitehe im Iran, sei älter und reich. Die typische Zeit-Ehefrau arm und deutlich jünger als dieser.
Häufig handle es sich um Mädchen, die – im Rahmen der islamischen Standard-Ehe – ursprünglich sehr jung verheiratet, und bald darauf, noch immer sehr jung, vom oft gewalttätigen Ehemann geschieden werden. Um dann vor dem Nichts zu stehen – vor dem der neue, reiche Zeit-Ehemann sie dann “retten” würde. Zwangsheirat und Kinderehen Was genau heißt “sehr jung verheiratet”?
Nach offiziellen Behördenangaben wurden allein im Zeitraum zwischen März 2010 und März 2011 (dem Jahr 1389 des iranischen Kalenders) über 42.000 Mädchen zwischen zehn und vierzehn Jahren verheiratet¹. 1974, fünf Jahre vor der Islamischen Revolution, war das Heiratsalter für beide Geschlechter, internationalen Standards entsprechend, auf achtzehn Jahren angehoben worden. Wenige Jahre nach der Revolution wurde dann das Heiratsalter für Mädchen auf neun, das für Jungen auf fünfzehn Mondjahre gesenkt.
Um 2002 auf Initiative von Anhängerinnen des “reformislamistischen” Präsidenten Khatami für Mädchen auf dreizehn Jahren erhöht erhöht zu werden. Nichtsdestotrotz kann noch heute ein “kompetenter Richter” – das Einverständnis des Vaters vorausgesetzt – auch Mädchen unter dreizehn Jahren die Heiratsfähigkeit attestieren.
Gelegentlich auch Mädchen unter neun. “Vor allem Mädchen aus armen Familien seien von solchen frühen Zwangsverheiratungen bedroht”, sagt die iranische Rechtsanwältin und Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi, “das sei ‘eine Art Menschenhandel … Denn meist werden die jungen Mädchen mit wohlhabenden Männern verheiratet. Und die Eltern handeln dabei für sich hohe Brautgelder aus’.”²
Die Existenz hunderttausender Kinderehen, das aus dem sozialen und dem Altersunterschied resultierende Machtgefälle sowie die zumindest gesetzlich vorhandene Möglichkeit der Polygamie – all das erscheint uns als Wiederkehr der Institution des Urvaters: Der Verknüpfung von Herrschaft und Lust in der Urhorde.
Foto: Vahid Salemi/AP/dapd Porträt einer Hochzeit im Nordosten Irans.
Polygamie und die durch Geldmacht und dem oft extremen Altersunterschied bedingte überlegene Machtposition des Ehemannes charakterisieren freilich nicht bloß die Zeitehe, sondern häufig auch die unbefristete islamische Standard-Ehe.
Auch wenn die Polygamie im Iran vorwiegend im Rahmen der Zeitehe, kaum mehr im Rahmen der islamischen Standard-Ehe praktiziert wird.
Synchrone und serielle Polygamie Es sind offenbar diese “Urhorden-Phänomene”, die weite Teile der iranischen Gesellschaft veranlassen, die Institution der Zeitehe – wie es ein Geistlicher im Film “Bazar der Geschlechter” ausdrückt – als “anstößig” zu empfinden und abzulehnen. Sodass ein Großteil der jungen, unverheirateten Iranerinnen und Iraner es vorzieht, auf die unbürokratische und legale Befriedigung ihrer Lust via Zeitehe zu verzichten. Und ihre Sexualität abseits des religiösen Gesetzes zu leben. Im Blogbeitrag “Teheran hat mehr Sexappeal als Wien” hatten wir gefragt, warum dem so ist. Warum die Menschen im Iran jenes Maximum an Lust, das ihnen die Zeitehe gestattet, ablehnen. Und um jeden Preis an der Unlust festzuhalten scheinen.
Oder an weniger Lust. Etwa im Rahmen von nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften – sogenannten “weißen Ehen” – deren zunehmende Verbreitung in den offiziellen Medien des Landes regelmäßig diskutiert wird.
“Weiße Eheleute” entscheiden sich gegen die in der Zeitehe den Männern gestattete synchrone und Männern und Frauen erlaubte serielle Polygamie. Und nehmen dabei auch noch das Risiko drakonischer Strafen in Kauf.
Und warum sich – wie hinzugefügt werden muss – der Kreis der “Verweigerer” keineswegs auf den Kreis potentieller Opfer jener typischen Zeitehe-Praxis beschränkt, also auf Frauen. Sondern auch Männer umfasst.
Dass uns die Merkmale der typischen Zeitehe-Praxis im Iran – das soziale und ökonomische Gefälle und der extreme Altersunterschied zwischen den Eheleuten, die Möglichkeit der Polygamie und die Existenz hunderttausender Kinderehen – an die Verknüpfung von Sexualität und Herrschaft in der Urhorde erinnern, dürfte uns der Antwort auf diese Fragen ein Stück näher gebracht haben:
In der Ablehnung der Institution der Zeitehe als “anstößig” begegnet jene Angst vor dem Rückfall ins Ur-Patriarchat, die sich schon während der Massenproteste der Frauen am 8. März 1979 artikuliert hatte. Kurzschluss zwischen Sexualität und Herrschaft Mit den Spekulationen Freuds über die Urhorde und den Urvater sind Durchschnittsiraner genauso wenig vertraut wie Durchschnittsösterreicher.
Man muss allerdings kein Psychoanalytiker sein, um zu erkennen, dass Phänomene wie Kinderehen, das soziale, ökonomische und Bildungsgefälle und der große Altersunterschied zwischen Ehefrauen und Ehemännern den Ehemann in die Position des Vaters drängen – und um ausgehend von dieser Erkenntnis solche Ehen als inzestuös zu empfinden.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Inzestuös bedeutet “dem Inzest ähnlich” – nicht “mit Inzest identisch”. Tatsächlich begegne ich in Gesprächen mit Iranerinnen und Iranern über die Zeitehe genau jenem Inzestekel, mit dem ich auch in meiner Arbeit mit Analysand(inn)en konfrontiert bin, die in einem inzestuösen Familienklima aufgewachsen sind. Die Tatsache, dass ein Großteil der iranischen Gesellschaft die Institution der Zeitehe als anstößig empfindet und ablehnt, gründet offenbar in jenem Inzestekel, den der Kurzschluss zwischen Sexualität und Herrschaft in dieser an die Urhorde und an den inzestuösen Urvater erinnernde Institution auszulösen vermag.
Auch im Westen Bisher ist uns das Motiv der Reproduktion der Urhorde nur in der heutigen Praxis der Zeitehe im Iran begegnet. Könnte es aber sein, dass dieses Moment auch in heutigen westlichen Gesellschaften eine Rolle spielt – wenn auch auf andere, weniger spektakuläre Weise? Im Blogbeitrag “Teheran hat mehr Sexappeal als Wien” hatten wir die Sexualmoral weiter Teile der iranischen Gesellschaft und jene in westlichen Gesellschaften als hedonistisch bezeichnet.
Diese Behauptung müssen wir nun revidieren. Waren bei den Massenprotesten der Frauen 1979 das Moment des “Rückfalls ins Ur-Patriarchat” und jenes der “Befreiung der Liebe” aufeinander geprallt, so scheint die heutige sexuelle Moral weiter Teile der iranischen Gesellschaft von asketischen Tendenzen geprägt.
Tendenzen, in denen sich auch die Ablehnung der als inzestuös empfundenen, an die Urhorde erinnernden Praxis der Zeitehe ausdrückt.
Und die etwa in den erwähnten “weißen Ehen” begegnen. Dass sich “weiße Ehepartner” gegen die in der Zeitehe gestattete Polygamie entscheiden und dabei auch noch das Risiko archaischer Strafen auf sich nehmen, weist sie jedenfalls nicht als Hedonisten aus. Und: Westliche Gesellschaften sind, was das sexuelle Verhalten und Empfinden betrifft – entgegen einem weit verbreiteten Missverständnis – nicht von Materialismus und Hedonismus, sondern von starken asketischen und narzisstischen Tendenzen beherrscht – siehe unter anderem den Blogbeitrag “Wie ‘sexuelle Autonomie’ die Lust tötet”.
Der tote und der lebendige Urvater Konfrontieren wir die asketischen Tendenzen unseres heutigen, postsexuellen Zeitalters, das der sexuellen Revolution der 1960er und 1970er folgte, mit unserem Urhorden-Schema, entsprechen diese dem Katzenjammer nach dem Urvatermord und der sexuellen Ur-Revolution in der Urhorde. Diese “Tyrannei des Über-Ichs”, die sexuelle und politische Revolutionen regelmäßig zu produzieren scheinen, gründet auf die reuevolle Verinnerlichung des toten Urvaters.
Wohingegen die asketischen Tendenzen in der heutigen iranischen Gesellschaft, im Gegenteil, auf die Angst vor der Auferstehung des – inzestuösen – Urvaters als Lebendigen gründen.
Wenn wir aber die Verknüpfung von Sexualität und (männlicher) Herrschaft als inzestuös bestimmt haben – sofern Männer durch ihre überlegene Macht die Position des (Ur)vaters einnehmen – dann können wir Urhorden-Phänomene auch in westlichen Gesellschaften vermuten. Dann könnte aber auch die Angst vor der Rückkehr der inzestuösen Urhorde und die Abwehr dieser Angst bei der Produktion und Reproduktion jener “Tyrannei des Über-Ichs” eine – bisher nicht gewürdigte – Rolle spielen.
Da die Vertiefung dieses Gedankens den Rahmen dieses Blogbeitrags sprengen würde, werde ich mich im folgenden mit einigen Stichworten begnügen. Wenn wir annehmen, dass die Angst vor der Rückkehr des inzestuösen Urvaters auch in und nach der sexuellen Revolution der 1960er-Jahre eine Rolle spielte, kommen uns zunächst Phänomene wie die Otto-Mühl-Kommune in den Sinn, eine tragisch-lächerliche Reinszenierung der Urhorde.
Oder Josef Fritzl, der mit seiner Tochter, die er 24 Jahre lang im Keller gefangen hielt sieben Kinder zeugte. Oder Berlusconis Ruby-Affäre. Uns zu helfen, genießen zu lernen Diese und andere Beispiele für die Reproduktion des Ur-Patriarchats in westlichen Gesellschaften mögen als extreme Einzelfälle erscheinen.
Vergessen wir aber nicht, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der ökonomische und politische Macht tendenziell verschmelzen (Stichwort: Trump und seine Regierung der Millionäre), in der ökonomische Macht zunehmend privatisiert wird (“Mehr privat – weniger Staat”) und in der immer weniger Menschen über immer mehr ökonomische Macht verfügen. Alles das ergibt, für sich genommen, keine Urhorde. Eine solche “immer stärkere” Macht könnte aber – wann immer sie sich mit Sexualität verbindet – Urhorden-Phänomene produzieren.
Foto: Standard/Christian Müller Otto Mühl, Kommunengründer, in der die Urhorde reinszeniert wurde. Andererseits: Die – unbewusste – Angst vor der Rückkehr der inzestuösen Urhorde, die asketischen Idealen und jener Tyrannei des Über-Ichs Vorschub leistet, unterstützt eben jene Verhältnisse, die sie bekämpfen sollte.
Denn: asketische Ideale auf Seiten der Unterprivilegierten – wenn diese also die Armut auch noch als Tugend empfinden – stabilisieren das System und befördern die Interessen der wenigen Privilegierten.
Wenn es stimmt, dass die Angst vor der Wiederkehr der inzestuösen Urhorde bei der Produktion jener unser postsexuelles Zeitalter prägenden “Tyrannei des Über-Ichs” eine Rolle spielt – jener Postsexualität, die den sexuellen Revolutionen der 1960er- und 1970er-Jahre folgte –, dann wirft dies auch ein neues Licht auf den Begriff der “Sublimierung”.
Wir erinnern uns: Im Blogbeitrag “Teheran hat mehr Sexappeal als Wien” war die Rede von Robert Pfallers Neuinterpretation dieses Schlüsselbegriffs der Psychoanalyse.
Pfaller fasst Sublimierung nicht als eine Leistung der Individuen auf, die sexuelle Triebenergien für “höhere” kulturelle Ziele nutzbar macht. Für ihn ist Sublimierung vielmehr jener Prozess, durch den die Gesellschaft ein bestimmtes Objekt, das uns zunächst abstoßend erscheinen mag, in etwas Sublimes und genießbares verwandelt.
Die offen gebliebene Frage warum uns bestimmte Objekte abstoßend erscheinen, können wir nun zu beantworten versuchen: Es ist die Inzestscheu, die – mitunter unbegründete – Angst vor der Rückkehr der inzestuösen Urhorde, die sexuelle Befreiungsversuche regelmäßig begleitet und scheitern lässt. Und die unsere heutige, von asketischen Idealen und Ekelgefühlen – etwa was das Rauchen oder eben auch die Sexualität betrifft – geprägte Gegenwartskultur mitbestimmt. Die “Kultur” hätte die Aufgabe, uns von dieser Angst zu befreien. Und uns zu helfen, genießen zu lernen. (Sama Maani, 7.7.2017)
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