Bei den Massendemonstrationen im Iran wurden laut Amnesty International über 200 Menschen getötet. Die meisten Angehörigen befürchten Repressalien und schweigen, doch zwei sprachen mit der DW.
06.12.2019 – DW -Arsham Ibrahimi kam nicht zu Hause an. Am 16. November geriet der 21-Jährige in einen Stau in der zentraliranischen Zwei-Millionen-Metropole Isfahan. Die Straßen waren durch große Protestaktionen blockiert. Die Demonstranten waren wütend, weil die Regierung die Benzinpreise über Nacht drastisch erhöht und Kraftstoff rationalisiert hatte. Arsham stieg aus und wollte zu Fuß laufen. Kurz später starb er auf der Straße.
Die traurige Nachricht erreichte die Familie vier Tage später, als der Leichnam an die Familie übergeben wurde. “Arsham wurde durch einen Schuss in den Rücken getötet”, sagt sein Onkel Behzad Ibrahimi über die Todesursache. Wer ihn erschossen hatte, hätten ihm die Behörden nicht mitgeteilt.
Eskalierende Gewalt
Mitte November waren im Iran mehrere Zehntausend Menschen auf die Straße gegangen. Vielerorts schlugen die Proteste in Gewalt um. Dutzende Tankstellen, Polizeiwachen, Bankfilialen, Behördengebäude und Moscheen wurden verwüstet oder in Brand gesteckt. Nach offiziellen Angaben wurden vier Angehörigen der Sicherheitskräfte getötet.
Die Führung in Teheran ließ die Proteste mit großer Härte niederschlagen. Doch ist das genaue Ausmaß der Gewalt der Sicherheitskräfte weiter unklar. Es gibt kaum unabhängige Medien im Land. Und die Regierung hatte das Internet kurz nach Beginn der Proteste praktisch komplett abgeschaltet.
Für die Menschenrechtsorganisation Amnesty International steht fest: Die Sicherheitskräfte haben unverhältnismäßig Waffengewalt gegen die Demonstranten eingesetzt. Amnesty hat viele Videos analysiert, die seit Wiederherstellung der Internetverbindung an die Öffentlichkeit drangen. Sie zeigten, wie Sicherheitskräfte aus kurzer Distanz auf Demonstranten schossen oder mit Schlagstöcken auf sie einprügelten.
“Wir sind komplett zerstört”
Gewaltopfer Arsham Ibrahimi stammte aus einer Veteranenfamilie. Sein Vater kämpfte im irakisch-iranischen Krieg in den 1980er Jahren und saß acht Jahre lang in irakischer Gefangenschaft. Auch sein Onkel Behzad hatte gedient. “Als der Vater von Arsham im irakischen Gefängnis saß, war unsere Familie nicht kaputt. Wir konnten alles ertragen”, sagt Behzad, “aber jetzt nach dem Tod Arshams sind wir komplett zerstört.”
In Karaj, etwa 50 Kilometer südwestlich von Teheran , kam Pouya Bakhtiari ums Leben. Am 16. November ging er mit seiner Mutter Nahid Shirbishe auf die Straße. Der 27-Jährige war Ingenieur, interessiert an Kunst und Literatur, sprach fließend Englisch – ein intelligenter Mann, wie ihn seine Mutter beschreibt.
In der Menschenmenge gingen Bakhtiari und seine Mutter auseinander. Später hörte sie Schüsse fallen. Einige Minuten später sah Nahid Shirbishe, wie ihr Sohn von anderen Demonstranten auf Schultern getragen wurde, blutüberströmt.
“Sie haben ihm direkt in den Kopf geschossen”, sagt Shirbishe im DW-Interview. “Als Veganer hatte mein Sohn immer Respekt vor dem Leben. Wer hat ihnen das Recht gegeben, ihm das Leben zu nehmen? Wer hat ihnen die Erlaubnis gegeben, direkt auf seinen Kopf zu zielen? Und warum verdammt noch einmal schossen sie auf meinen Sohn?”
Behörden dementierten Todesopfer
Nahid Shirbishes Fragen bleiben unbeantwortet. Die iranischen Behörden bestätigten nur rund 500 Festnahmen, darunter 180 “Rädelsführer”. Den Bericht von Amnesty über mindestens 208 Todesopfer wies die Justiz zurück. “Die Zahlen der feindlichen Gruppen sind absolut gelogen”, so ein Justizsprecher.
Viele Beobachter bezeichnen die letzten Proteste im Iran als “Bewegung der Armen”, weil die meisten Demonstranten der untersten Schichten der Gesellschaft angehörten und deswegen von der Preisschwankung stark betroffen waren.
Doch Pouya Bakhtiari ging es wirtschaftlich gut. “Mein Sohn besaß ein Auto, wohnte in einem Apartment mit 150 Quadratmetern. Ihm fehlte nichts. Er ging auf die Straße für Gerechtigkeit und Freiheit, nicht wegen Hunger und Not”, so sieht es seine Mutter.
“Als eine Mutter, die eine schreckliche unerträgliche Trauer im Herzen hat, darf ich nicht einfach still bleiben und nichts sagen.” Schweigen wäre Verrat, so Nahid Shirbishe. “Verrat gegen das Blut, das auf den Straßen vergossen wurde.”
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