Iran und die Bombe

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30.06.2015, Frankfurter Allgemeine – von Dr. Volker Stanzel – Als vor zwölf Jahren die Verhandlungen über das iranische Atomprogramm begannen, hatten die Europäer noch die Hoffnung, Teheran von der militärischen Nutzung der Kernenergie abhalten und ein atomares Wettrüsten im Nahen und Mittleren Osten verhindern zu können. Was ist daraus geworden? Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ist sich sicher. „Das Abkommen bereitet den Weg zur Bombe“, äußerte er im Blick auf die Rahmenvereinbarung vom 2. April dieses Jahres zur Lösung des iranischen Nuklearproblems.

Dieses Problem beschäftigt die Staatengemeinschaft, seit die iranische Opposition im Jahr 2002 die Existenz einer geheimen Urananreicherungsanlage bekanntgemacht hatte. Die inzwischen zwölf Jahre dauernden Verhandlungen über das iranische Atomwaffenprogramm werden möglicherweise demnächst auf der Grundlage des Rahmenabkommens abgeschlossen werden. In einem in der modernen Diplomatie einzigartigen Versuch, die Welt vor einem atomaren Wettrüsten im Nahen Osten zu bewahren, haben diese Verhandlungen Deutschland an die Seite der fünf Nuklearmächte im UN-Sicherheitsrat geführt. Ein Erfolg wäre daher auch ein Erfolg der EU, ihrer multilateralen Verhandlungsstrategien und ein Beleg für die Wirksamkeit gezielter Sanktionspolitik.
Die Informationen, die die oppositionelle Gruppe MKO im Jahr 2002 verbreitete, bedeuteten nichts anderes, als dass Iran die Welt seit Jahren über sein Atomwaffenprogramm getäuscht hatte. Ein solches Programm hätte durchaus seine eigene Logik. Das iranische zivile Nuklearprogramm reicht in das Jahr 1959 zurück. Dem Schah, der einen Wiedergänger des persischen Großreichs der Antike schaffen wollte, schien schon damals der Besitz von Atomwaffen unabdingbar. Dennoch gehörte Iran im Jahr 1968 auf Druck der Vereinigten Staaten zu den ersten Unterzeichnern des Atomwaffen-Nichtverbreitungsvertrags (NVV) – übrigens vor der Bundesrepublik. Konrad Adenauer hatte den Vertrag 1965 noch als „Todesurteil“ bezeichnet.
Nach der Revolution des Jahres 1979 beendete Ajatollah Chomeini das militärische Programm mit dem Argument, dieses sei eine „Sünde“. 1984 wurde der Bau eines zivilen, ursprünglich von Siemens und AEG geplanten Reaktors in Buschehr wiederaufgenommen. Im irakisch-iranischen Krieg der Jahre 1980 bis 1988 griff Saddam Hussein Iran mit Giftgas-Massenvernichtungswaffen an. Eine Atombombe hätte vermutlich abschreckend gewirkt. Heute hält sich das schiitische Iran von seinen sunnitischen Nachbarn bedroht wie seinerzeit vom Irak, insbesondere von dem von den Vereinigten Staaten hochgerüsteten Saudi-Arabien. Schließlich sieht sich Iran von Atommächten umgeben: Israel – die unerklärte Atommacht – im Westen, Russland im Norden, die amerikanische Flotte – Chomeinis „großer Satan“ – im Indischen Ozean, das sunnitische Pakistan im Osten. Das Sicherheitsbedürfnis Irans würde also ein Atomwaffenprogramm plausibel machen.
Allerdings: Israel hat 1981 den Irak und 2007 Syrien bombardiert, um die Nuklearwaffenprogramme beider Länder mit Gewalt zu beenden. Der amerikanische Präsident George W. Bush hatte Iran mit dem Irak und Nordkorea auf die „Achse des Bösen“ gesetzt und im Irak-Krieg des Jahres 2003 Saddam Hussein wegen eines angeblichen Atomwaffenprogramms gestürzt. Ein Bekenntnis zu einem Atomwaffenprogramm barg und birgt demnach Risiken.

Es sind daher vornehmlich Indizien, auf die sich der Verdacht stützt, Iran entwickele Atomwaffen: Weshalb benötigt eines der erdölreichsten Länder des Globus Atomenergie? Weshalb verfolgt Teheran ein Programm zur Entwicklung von Langstreckenraketen, die wegen ihrer geringen Zielgenauigkeit einzig als Träger von Massenvernichtungswaffen dienen können? Was besagt die Drohung des ehemaligen Präsidenten Rafsandschani aus dem Jahr 2001, eine künftige „islamische Atombombe“ würde nichts von Israel übrig lassen?
Satellitenaufnahmen sowie die Ergebnisse einer Anfang 2003 vor Ort durchgeführten Untersuchung durch die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) bestätigten die Informationen der MKO. Iran hatte verdächtige Teile seines Atomprogramms verheimlicht, darunter Arbeiten zur Beherrschung des vollen Brennstoffkreislaufs – eine Voraussetzung für die Herstellung von Atomwaffen. Gestattet hatte Iran die Inspektionen der IAEO mit dem Argument, alle Versäumnisse lägen unterhalb der Schwelle dessen, was der Organisation berichtet werden müsse.
Die Erkenntnisse der IAEO alarmierten nicht nur Israel und die Vereinigten Staaten. Besorgt waren auch die Atommächte im UN-Sicherheitsrat und die Mitglieder des NVV, die mit der IAEO eine Einrichtung geschaffen hatten, die im Gegenzug für den Verzicht auf Atomwaffen ihren Mitgliedern die Unterstützung ziviler Nuklearprogramme garantiert.
Gleich doppelt betroffen von der Enttarnung des Atomprogramms war Deutschland – als engster Partner Israels in der EU und als wichtigster Handelspartner Irans. Mit einer iranischen Bombe und dem Ende des atomaren Friedens schien der Nahe und Mittlere Osten den Schreckensvorstellungen des damaligen deutschen
Außenministers Joschka Fischer von einer sich in Chaos auflösenden Region näher zu rücken.
Teheran allerdings erklärte, man werde das zivile Programm fortführen und sich nicht an Vorschriften halten, die Iran im Vergleich mit anderen Staaten diskriminierten. Das Ziel aller Verhandlungen musste somit sein, dass Iran sich nachprüfbar verpflichtete, sämtlichen Vorgaben der IAEO zu folgen. Darüber hinaus müsse die Regierung unangemeldete Kontrollen nach einem sogenannten Zusatzprotokoll zulassen, wie es mehr als die Hälfte der NVV-Staaten bereits getan hatte. Das eigentliche Ziel aber formulierte Fischer im Jahr 2003 im Deutschen Bundestag. Der grüne Außenminister verlangte von Iran, auf die Beherrschung des geschlossenen nuklearen Brennstoffkreislaufs zu verzichten.
Dass Iran sich um die Mahnungen aus Deutschland nicht scheren würde, lag auf der Hand. Seit der Besetzung der amerikanischen Botschaft in Teheran im Jahr 1979 war Iran auf die Vereinigten Staaten und Israel als nichtislamische Gegner sowie auf Saudi-Arabien als mächtigsten sunnitischen Konkurrenten in der Region fixiert. Washington schloss damals Beziehungen mit Diktaturen aus, die mutmaßlich oder wirklich den Dschihad-Terrorismus unterstützten. Nach dem Angriff auf den Irak schien auch ein Angriff auf Iran möglich. In der EU wiederum gingen die Interessen erheblich auseinander, je nach Umfang der Wirtschaftsbeziehungen, etwa der Öleinfuhren der Mittelmeer-Anrainerstaaten, der Finanzgeschäfte iranischer Banken in London und Hamburg oder des Exports von Industriegütern aus Deutschland.
In dieser Situation gelang es der Bundesregierung, Kooperationspartner in London und Paris zu finden. Großbritannien und Frankreich sahen mit Deutschland die Chance, die Teilung der EU in „altes“ und „neues“ Europa zu überwinden, von der der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld im Zuge des Streits über die Unterstützung des Angriffs auf den Irak gesprochen hatte.
Europäische Einigkeit war zunächst schwer herzustellen. Die Vorbehalte der anderen EU-Staaten gegen ein sich abzeichnendes „Dreier-Direktorat“ minderten sich erst, als Xavier Solana als Hoher Repräsentant der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU zusammen mit den Politischen Direktoren der E3 von November 2004 an mit Iran sprach. Fortan wurde von den „E3/EU“ gesprochen, um die Einbindung der EU hervorzuheben.
Ein Brief der drei Außenminister und ihr darauf folgender Besuch in Teheran führten unerwartet zu einem ersten Erfolg. Im Oktober 2003 erklärte Iran sich mit dem Vorschlag einverstanden, seine bisherigen umstrittenen Aktivitäten so lange „einzufrieren“, bis ein endgültiges Verhandlungsergebnis erzielt sei. Allerdings willigte Iran nicht in einen endgültigen Verzicht auf die Urananreicherung ein. Meinungsverschiedenheiten mit Washington über diese Vereinbarung konnte Großbritannien als deren Verbündeter im Irak-Krieg beilegen helfen.
Die Europäer stimmten zu, als die Vereinigten Staaten im Juni 2004 eine Verurteilung Irans durch die IAEO forderten, aber im Gegenzug darauf verzichteten, die Angelegenheit vor den UN-Sicherheitsrat zu bringen. Dem folgte am 15. November 2004 eine „Pariser Übereinkunft“ mit den E3/EU. Darin verpflichtete sich Iran, als „vertrauensbildende Maßnahme“ seine Anreicherungsaktivitäten weiterhin auszusetzen und darüber hinaus der IAEO nach Maßgabe eines Zusatzprotokolls entsprechende Inspektionen zu gestatten. Die militärische Option der Vereinigten Staaten war damit vorläufig vom Tisch.
Möglicherweise bestand damals auf iranischer Seite die Absicht, das Programm an den IAEO-Inspektionen vorbei fortzuführen. Eine Passage in den Memoiren des damaligen iranischen Chefunterhändlers und heutigen Präsidenten, Hassan Rohani, scheint diese Annahme zu bestätigen. Rohani begegnet seinen Kritikern auf ihren Vorwurf hin, zu viele Zugeständnisse gemacht zu haben, mit Hinweisen auf „die Vervollständigung der Urankonversionsanlage Isfahan, die Aufstellung und Konstruktion von Zentrifugen, den Schwerwasserreaktor Arak, Arbeit am Bau eines 40-Megawatt-Reaktors, Vervollständigung der Untergrundanlage Natans; die Produktion von Yellowcake und den Bau der P2-Zentrifuge.“
Nachdem im Lauf der weiteren Verhandlungen klar wurde, dass die E3/EU nicht anders als die Amerikaner den vollständigen Verzicht Irans auf die Anreicherungstechnologie erwarteten, ließ Religionsführer Ajatollah Ali Chamenei den neuen iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadineschad nach dessen Amtsübernahme im August 2005 das Pariser Übereinkommen aufkündigen. Die Arbeiten in den iranischen Nuklearanlagen wurden im Januar 2006 wiederaufgenommen. Die E3/EU verhandelten nun mit den Vereinigten Staaten und den anderen ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats – den Nuklearmächten Russland und China – über Sanktionen gegen Iran. Damit entstand das neue, bis heute funktionierende Format der Verhandlungen: die „E3+3“ oder „P5+1“ – die fünf Atommächte und Deutschland. Die Vereinigten Staaten nahmen allerdings bis 2009 wegen des Kontaktverbots als Folge der Botschaftsbesetzung in Teheran nicht direkt an Gesprächen teil.
Es entwickelte sich jenes Verhandlungsmuster, das fast zehn Jahre Bestand haben sollte: Die sechs Gesprächspartner Irans einigten sich mit der IAEO auf Schritte, mit denen das Land irgendwann das Ziel der „Null-Anreicherung“ erreichen würde. Im Gegenzug boten die sechs an, Iran zu einem modernen Leichtwasserreaktor zu verhelfen, alle Sanktionen einzustellen und in Projekten der zivilen Luftfahrt, der Telekommunikation, der Hochtechnologie und der Landwirtschaft zusammenzuarbeiten. Iran verzögerte regelmäßig seine Antwort um Monate, so dass die E3+3 dem UN-Sicherheitsrat schließlich vorschlugen, Sanktionen zu verhängen.
Nach einem Beschluss des Sicherheitsrats folgte die entsprechende – und entsprechend langwierige – gesetzgeberische Umsetzung, im Fall Europas zunächst der EU, dann der Mitgliedstaaten, zumeist mit einer Verschärfung der UN-Beschlüsse. Die Sanktionen zielten auf die Schwachstellen des Landes: Die Ausfuhr von Öl und Gas wurde beschränkt, Ausrüstungen zur Raffinierung von Erdöl, zahlreiche Industriegüter (etwa für die zivile Luftfahrt und die Schifffahrt) und auch immer mehr Militärgüter durften nicht mehr nach Iran geliefert werden, für Investitionen sowie Finanz- und Versicherungsgeschäfte wurden hohe Hürden errichtet. Von Sanktionen betroffen waren auch Einzelpersonen, etwa aus dem Kreis der „Revolutionären Garden“, und deren Einlagen bei Banken außerhalb Irans. Zwischen Juli 2006 und Juni 2010 gab es so insgesamt sechs Resolutionen der UN über das Nuklearprogramm, vier davon galten als Zwangsmaßnahmen.
Israel warnte in diesem Zeitraum immer wieder davor, dass Iran binnen etwa zwölf Monaten über eine Bombe verfügen würde. Diese Warnung war angesichts des Rufs des israelischen Geheimdienstes Mossad glaubwürdig – und damit auch ein militärischer Präventivschlag der Israelis möglich. Allerdings wäre wegen der großen Entfernung ein solcher Angriff ohne Hilfe der Vereinigten Staaten nicht möglich gewesen. Auch verlagerte Iran einen Teil seiner Nuklearanlagen so tief unter die Erde, dass selbst ein Angriff mit bunkerbrechenden Bomben hätte fehlschlagen können. Das technologische Wissen Irans hatte unterdessen einen Stand erreicht, der vermuten ließ, dass das Regime auch nach einem Militärschlag gegen die bestehenden Anlagen nicht davon ablassen würde, nach Atomwaffen zu streben.
Die Parameter der Verhandlungen veränderten sich. Die sechs verhandelten nun im Wissen (das nicht ausgesprochen werden durfte), dass Iran Kernwaffenfähigkeit erlangen würde. Also strebten sie an, zu einem späteren, politisch günstigen Zeitpunkt die Beendigung des iranischen Nuklearwaffenprogramms in ähnlicher Weise zu erreichen, wie es zuvor im Fall von Argentinien und Brasilien möglich gewesen war. Andernfalls würden sie auf die Wirksamkeit militärischer Abschreckung – wie im Kalten Krieg – vertrauen müssen.
In dieser prekären Balance zwischen Erkenntnis der iranischen Absichten und dem taktischen Erfordernis, Verhandlungschancen nicht zu verspielen, waren die Interessenlage unter den sechs oft ebenso prekär und die Abstimmung vor einer neuen Verhandlungsrunde so wichtig und langwierig wie diese selbst. Wenn ein Partner darauf setzte, dass Verhandlungen zumindest die Chance einer Einigung enthielten, sah ein anderer darin die Gefahr, dass Iran die Welt irgendwann mit einer Bombe konfrontieren würde.
Der Verdacht, Wirtschaftsinteressen über Sicherheit zu stellen, stand immer im Raum, ebenso die Vermutung, dass amerikanische Neokonservative sich ohnehin nur eine militärische Lösung vorstellen konnten. Russland hatte Interesse, Waffenlieferungen an Iran fortzusetzen und den Atomreaktor in Buschehr fertigzustellen. Chinas Handelsvolumen mit Iran wuchs kontinuierlich und übertraf im Jahr 2009 erstmals das mit der gesamten EU einschließlich Deutschlands.
Diese Gemengelage führte zu immer wieder wechselnden Konstellationen unter den sechs. Oft wurde wichtiger, Zusammenhalt zu demonstrieren, als zu neuen Beschlüssen zu gelangen; im September 2009 genügten wenige Minuten am Rand der UN-Vollversammlung, um ein erfolgreiches Treffen zu verkünden. Hilfreich war, dass Iran laut der im November 2007 veröffentlichten gemeinsamen Einschätzung der amerikanischen Geheimdienste das militärische Atomprogramm im Jahr 2003 eingestellt hatte, es allerdings jederzeit wieder würde aufnehmen können. Das bedeutete mehr Zeit für weitere Verhandlungen.
In Peking machte sich derweil Ungeduld angesichts der iranischen Unbeweglichkeit breit. Am 16. April 2009 war China in Schanghai Gastgeber für Solana und die Politischen Direktoren der sechs. Das war ein Novum, hatten sich doch bis dahin weder Moskau noch Peking allzu sichtbar mit den E3+3 identifiziert. Die Unterhändler erwartete ein Raum mit Fahnenschmuck und TV-Kameras – ein öffentliches chinesisches Signal des Missfallens in Richtung Teheran. Allerdings erfolglos.
Die Sanktionen schadeten der iranischen Wirtschaft immer stärker. Doch gelang es immer wieder, insbesondere durch erhöhte Ölexporte, größere Rückschläge zu vermeiden. Das Nuklearprogramm wurde unbeirrt fortgeführt. Im Jahr 2008 besaß Iran schon 3000 Gaszentrifugen, so dass es mit dem darin angereicherten Uran etwa ab dem Jahr 2010 möglich gewesen wäre, eine Bombe zu bauen. Die Amtsübernahme durch Präsident Barack Obama im Jahr 2009 führte in Washington zu neuen Überlegungen. Anstatt abzuwarten, bis die Sanktionen Iran zum Einlenken zwingen würden, erklärten sich die Amerikaner bereit, ihren Joker auszuspielen: das Angebot der Normalisierung der amerikanisch-iranischen Beziehungen. Auf dem zweigleisigen Ansatz der E3+3 – Parallelität von Zwangsmaßnahmen einerseits und Kooperationsangebote andererseits – konnte nun das „Gleis“ mit den Anreizen deutlich verstärkt werden: Obama ließ erkennen, er sei zu direkten Gesprächen mit Teheran bereit.
In diesem Moment kam ein Zufall zu Hilfe. Für medizinische Zwecke benötigte Iran dringend 120 Kilogramm auf 19,8 Prozent angereichertes Uran. Dank der Sanktionen war dieses Material nicht auf dem normalen Markt erhältlich. Das führte die sechs zum Entwurf eines Modells zur Vertrauensbildung, das wiederum ein Schritt auf dem Weg zu einer späteren Lösung des iranischen Nuklearproblems sein sollte. Teheran sollte die erforderliche Menge niedrig angereicherten Urans – das heißt 1200 seiner 1600 Kilogramm – über die Türkei nach Russland und dann nach Frankreich zur weiteren Anreicherung und Verarbeitung transportieren, um es an einen Teheraner Forschungsreaktor zu liefern. Diesem Modell gemäß hätte man auch in Zukunft verfahren können. Russland hätte so Brennstäbe für Buschehr mit leicht angereichertem Uran aus Iran herstellen können.
Am 1. Oktober 2009 verhandelten die E3+3 über dieses Modell in Genf. Zum ersten Mal war der stellvertretende amerikanische Außenminister direkt beteiligt. Schließlich erhob sich der iranische Verhandlungsführer: Er werde mit Gott sprechen. Etwa eine halbe Stunde ging er am Ende des Gartens vor der Villa, in der verhandelt wurde, auf und ab, um schließlich den wartenden Vertretern der E3+3 zu verkünden, er werde sich in Teheran für die Annahme des Vorschlags einsetzen.
Ajatollah Chamenei ließ den Vorschlag ablehnen. Auch als im November 2009 Catherine Ashton, eine der geschicktesten Unterhändlerinnen der EU, an die Stelle Solanas trat, als die Türkei und Brasilien als neutrale Staaten anboten, das iranische Uran zwischenzulagern – nichts änderte sich mehr an der Ablehnung Teherans.
Im Jahr 2010 traf einer der bisher ausgefeiltesten Cyber-Angriffe das iranische Nuklearprogramm. Das Virus „Stuxnet“ legte etwa tausend Zentrifugen lahm. Hinter diesem Angriff vermutet wurden die Vereinigten Staaten und Israel. Eine Bestätigung dafür gibt es bis heute nicht. Dauerhafte Wirkung hatte der Angriff nicht. Am 8. November 2011 stellte die IAEO fest: „Informationen weisen darauf hin, dass der Iran Tätigkeiten ausgeführt hat, die für die Entwicklung einer nuklearen Sprengvorrichtung bedeutsam sind.“
Trotzdem konnten sich die E3+3 nicht auf neue Sanktionen einigen. Sie hätten auch die jeweils eigene Wirtschaft empfindlich getroffen. Daher beschloss die EU im Januar 2012, nach amerikanischem Vorbild iranische Rohölimporte sowie die Tätigkeit der iranischen Zentralbank in der EU zu verbieten. Israel stellte nun wieder die Frage nach der Notwendigkeit eines vorbeugenden Angriffs. Auch unter den sunnitischen Nachbarstaaten wuchs die Besorgnis, Teheran könne bald über Atomwaffen verfügen.
In dieser Situation fand die Präsidentenwahl in Iran statt. Hassan Rohani, der Chefunterhändler während der ersten Nukleargespräche, übernahm im August 2013 das Amt des Präsidenten. Auf sein Angebot „ernsthafter und gehaltvoller“ Gespräche reagierte Obama umgehend mit den Worten, er sei ein „williger Gesprächspartner“. Im Oktober 2013 entsandte Rohani seinen Außenminister in die nächste Runde der Gespräche. Damit änderte sich der Charakter der Verhandlungen. Waren es zu Beginn die E3 gewesen, die einen zögerlichen amerikanischen Präsidenten an den Verhandlungstisch brachten und ein erhebliches Maß an diplomatischer Erfindungsgabe aufbieten mussten, um auch Russen und Chinesen zu beteiligen, die weniger sanktionsbereiten Europäer einzubinden und die schließlich eine Übereinstimmung mit der IAEO über die technischen Vorgaben erreichen mussten, so waren es jetzt Amerikaner und Iraner, zwischen denen die Gespräche vorangetrieben wurden.
Am 2. April 2015 – nach einer ganzen Woche, die die Außenminister am Verhandlungstisch in Genf verbrachten – konnte die Einigung auf jene Vereinbarung verkündet werden, auf die der israelische Premierminister so ablehnend reagieren sollte. Der Inhalt war weit von den Vorstellungen entfernt, mit denen die E3/EU im Jahr 2003 in die Verhandlungen gegangen waren. Iran hatte seither Nuklearwaffenfähigkeit erreicht – das Land besaß noch keine Bombe, konnte eine solche aber innerhalb weniger Monate bauen. Die Hoffnung, ein atomwaffengerüstetes Iran und damit ein atomares Wettrüsten in der Region verhindern zu können, ruhte nun nicht mehr auf dem Versuch, dem Land die Technik zu nehmen. Jetzt war das Ziel, zwischen dem allfälligen Entschluss, eine Bombe herzustellen, und dessen Verwirklichung genügend Zeit zu haben, um Gegenmaßnahmen zu ergreifen, erforderlichenfalls auch militärische.
Vorgesehen ist nun, dass mehr als zwei Drittel der gegenwärtig nahezu 20 000 Zentrifugen zur Urananreicherung stillgelegt und 96 Prozent des vorhandenen angereicherten Urans vernichtet oder exportiert werden. Die vorhandenen Anlagen sollen von der IAEO so umgebaut werden, dass das Land selbst im Fall eines Bruchs des Abkommens mindestens zwölf Monate benötigt, um eine Bombe zu bauen. 25 Jahre lang soll ein Sonderüberwachungsregime unangekündigte Inspektionen ermöglichen. Zwar sollen die Sanktionen schrittweise aufgehoben, aber im Fall eines Bruchs der Vereinbarung durch Iran automatisch wieder in Kraft gesetzt werden.
Israel, die Saudis und die Republikaner in den Vereinigten Staaten lehnen diesen Ansatz ab. 47 Senatoren schrieben einen Brief an den iranischen Präsidenten und wiesen ihn darauf hin, dass ein künftiger Präsident die unter Obama erzielte Einigung widerrufen könne. Die traditionellen Unterstützer Israels in Amerika, die ohnehin überwiegend Sympathien für die Demokraten haben, befürworteten das Abkommen mehrheitlich. Auch die Reaktion in Teheran war zwiespältig. Zwar jubelten die Menschen am 3. April auf den Straßen. Offenkundig war der Effekt der Sanktionen spürbar gewesen. Auf der anderen Seite sehen sich die Hardliner ihres Lieblingsgegners Amerika beraubt. Sie, die unter dem Vorwand, sich gegen die amerikanisch-israelische Dominanz im Nahen und Mittleren Osten zu wehren, die Hamas im Gazastreifen, die Hizbullah im Libanon und in Syrien sowie die Houthi im Jemen unterstützen und ihren Einfluss in der Region ausdehnen, könnten es künftig schwerer haben.
Es wäre zu hoffen, dass Iran, der dank der Übereinkunft nicht mehr Außenseiter in der Region wäre, zu Vertrauensbildung und einer darauf basierenden Sicherheitsordnung beitragen wird. Technische Regelungen sind es somit, die den politischen Disput lösen und Iran die Chance zur Neugestaltung seiner Rolle in der Region geben sollen. Das zugrundeliegende Prinzip multilateraler Interessenabstimmung gilt als typisch „europäisches“. Gewiss ist auch: Nicht nur militärische Mittel sind „hard power“, Sanktionen sind es auch. Bei einem Erfolg der Verhandlungen wäre der Gewinn für Israel an Sicherheit enorm. Dasselbe gilt für die sunnitisch-arabischen Gegenspieler Irans.
Die E3 waren Initiatoren des Verhandlungsprozesses, die EU hat in einem für die Staatengemeinschaft dringlichen Problem die Initiative ergriffen und zusammen mit den drei Großmächten Vereinigte Staaten, China und Russland sinnvolle Ergebnisse erzielt. Der NVV hat sich bewährt, und vom „alten“ und „neuen“ Europa ist längst nicht mehr die Rede. Vielleicht ist das angesichts der Krisen, denen sich Europa derzeit gegenübersieht, ein ermutigendes Resultat.

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