Burka-Debatt- Toleranz ist keine Einbahnstrasse

In Deutschland wird ein Burka-Verbot als Verletzung verfassungsrechtlich garantierter Grundrechte angesehen. (Bild: Mohammad abu Ghosh / AP Photo)

23.9.2016, Neue Zürcher Zeitung, Gastkommentar von Homayoun Alizadeh :Die Respektierung der Rechte der in Europa lebenden Muslime ist die eine Sache; die Respektierung europäischer Werte und Normen seitens dieser Personengruppe aber ist die andere. 

«Gelebte Vielfalt ist die logische Konsequenz von Freiheit», dies sagte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Debatte um ein Verbot von Burka bzw. Nikab. In Deutschland wird ein solches Verbot als Einschränkung persönlicher Rechte bzw. als Verletzung verfassungsrechtlich garantierter Grundrechte angesehen. Ganz anders in Frankreich: Hier betrachtet man das Tragen von Burka bzw.

Nikab als unvereinbar mit europäischen Werten – etwa der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau oder der Freiheit von religiösem Zwang. Per Gesetz darf niemand in der Öffentlichkeit Kleidung tragen, die dazu bestimmt ist, das Gesicht zu verbergen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat das französische Burkaverbot 2014 für rechtens erklärt und die Klage einer in Pakistan geborenen Französin sunnitischen Glaubens abgewiesen; die Französin hatte sich durch das gesetzliche Verbot diskriminiert und in ihrer Religions- und Meinungsfreiheit eingeschränkt gefühlt.

Das Hauptargument des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bezog sich auf die Tatsache, dass die Burka eine Barriere zwischen ihrer Trägerin und der Umwelt errichte und damit das Gefühl des Zusammenlebens in der Gesellschaft untergrabe. Daher wurde das Verbot als angemessen angesehen. Durch diese Rechtsprechung sind die rechtlichen Weichen für ein Burkaverbot in anderen europäischen Staaten gestellt.

Die Burka-Debatte hat jedoch auch einen wichtigen politischen Aspekt. Die muslimischen Gemeinden in Europa betrachten das französische Burkaverbot als einen islamfeindlichen Akt. Sie argumentieren damit, dass ein demokratisches System daran gemessen wird, wie es mit seinen Minderheiten und Andersdenkenden bzw. Andersgläubigen umgeht. Politisch betrachtet, hat diese Argumentation auch eine Kehrseite: Wenn muslimische Gemeinden verlangen, dass die in europäischen Gesellschaften lebenden Musliminnen öffentlich Burka tragen dürfen, sollte man auch meinen, dass aufgrund des Reziprozitätsprinzips auch europäische Frauen das Recht hätten, sich ohne Kopfbedeckung auf den Strassen von Jidda oder Teheran zu bewegen.

Die islamische Bekleidung ist eine Art politische Manifestation gegen westliche Werte.

Die islamische Bekleidung ist eine Art politische Manifestation gegen westliche Werte. Dies kam vor allem nach der iranischen Revolution von 1979 zutage, als Ayatollah Khomeiny das Tragen des «Tschadors» als eine eindeutige Manifestation gegen den als westlich gesinnten Schah Reza Pahlewi propagierte. Heute, 35 Jahre nach der Revolution, werden immer noch Frauen auf offener Strasse von dafür eingesetzten Sittenwächtern wegen ihrer zu kurz getragenen Kopfbedeckung geprügelt oder gar von religiösen Fanatikern mit Säure bespritzt. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass vor der iranischen Revolution von 1979 kaum Frauen mit Kopfbedeckung oder Burka in Indonesien oder Malaysia zu sehen waren. Heute sieht es anders aus. Man sieht kaum muslimische Frauen ohne Kopfbedeckung auf den Strassen von Jakarta oder Kuala Lumpur.

Man mag der Argumentation der Bundeskanzlerin Merkel beipflichten, dass die in Deutschland lebenden muslimischen Frauen das Recht geniessen sollten, ihren Glauben öffentlich zu bekunden, ohne vom Staat in der Ausübung ihrer religiösen Gebote und Sitten behindert zu werden. Die Frage stellt sich nun, ob die in Europa agierenden islamischen Gemeinden und Organisationen im Gegenzug die westlichen Werte der persönlichen Freiheit, der Toleranz sowie der Selbstbestimmung der Frau respektieren bzw. die muslimischen Frauen ihr Leben nach demokratischen Prinzipien, insbesondere der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, voll akzeptieren würden.

Wenn muslimische Gemeinden verlangen, dass die in europäischen Gesellschaften lebenden Musliminnen öffentlich Burka tragen dürfen, sollte man auch meinen, dass aufgrund des Reziprozitätsprinzips auch europäische Frauen das Recht hätten, sich ohne Kopfbedeckung auf den Strassen von Jidda oder Teheran zu bewegen.

Diese Frage ist leider mit Nein zu beantworten, zumal die Integration der muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger in die europäischen Gesellschaften bisher ohne Erfolg blieb. Als Beispiel möge man die grosse Demonstration der aus der Türkei stammenden und in Deutschland lebenden Türken in Erinnerung rufen, bei der sich rund 40 000 Teilnehmer in Köln hinter den Präsidenten Recep Tayyip Erdogan nach dem gescheiterten Militärputsch im Juli stellten, um seinem Kurs zur Belebung des traditionellen Islams sowie zur Abschaffung der Grundfreiheiten und der Demokratie in der Türkei Ausdruck zu verleihen.

Die Respektierung der Rechte der in Europa lebenden Muslime ist die eine Sache; die Respektierung europäischer Werte und Normen seitens dieser Personengruppe aber ist die andere. Es kann nicht sein, dass muslimische Frauen bzw. die islamischen Gemeinden und Organisationen das Recht für sich beanspruchen, in den modernen europäischen Gesellschaften den Glauben an den Islam öffentlich zu bekunden, zugleich aber den westlichen Werten der Toleranz, Meinungsvielfalt und der vollen Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau mit Verachtung und Respektlosigkeit begegnen. Diese Einbahnstrasse darf es nicht geben. Das Prinzip der Reziprozität ist hier geboten. Diese politische Botschaft muss stärker in den Vordergrund gestellt werden. Eine diesbezügliche Nachsicht wäre gesellschaftspolitisch fatal für die Zukunft Europas.

Homayoun Alizadeh, iranischer Herkunft, ist als österreichischer Beamter derzeit wegen der Flüchtlingskrise am Mittelmeer in Sizilien eingesetzt. Von 1995 bis 2014 war er für das Uno-Hochkommissariat für Menschenrechte in Afrika, Asien und Genf tätig.

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