Ein Gespräch mit Wenzel Michalski von Human Rights Watch über das repressive Mullah-Regime, die Unruhen und Machthaber, die etwas zu verheimlichen haben.
05.Dez.2019 – Der Tagesspiegel – CHRISTIAN BÖHME
Wenzel Michalski ist seit 2010 Deutschland-Direktor der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.
Herr Michalski, Mitte November wurde der Iran tagelang von schweren Unruhen erschüttert. Menschen, die in vielen Städten des Landes gegen ihre schlechte wirtschaftliche Lage und das Regime protestierten, sind verhaftet worden oder kamen sogar ums Leben. Was ist nach Ihren Erkenntnissen passiert?
In erster Linie waren das vermutlich soziale Unruhen. Die Leute sind zu Tausenden wegen einer drastischen Erhöhung des Benzinpreises auf die Straße gegangen. Besonders erstaunlich daran ist, dass die Menschen es überhaupt gewagt haben, in aller Öffentlichkeit zu protestieren.
nwiefern?
Wer das in der Islamischen Republik tut, lebt gefährlich. Friedliche Demonstranten werden vom Regime immer wieder als Unruhestifter gebrandmarkt. Vertreter der Ajatollahs rufen regelmäßig dazu auf, angebliche Aufwiegler sogar zu exekutieren. Wer in einer derartig bedrohlichen gesellschaftlichen Atmosphäre protestiert, geht also ein erhebliches Risiko ein. Das zeigt, wie verzweifelt und wütend die Menschen sind.
In den sozialen Medien kursieren Videos, die brutale Polizeigewalt zu zeigen scheinen. Welche Aussagekraft messen Sie diesen Hinweisen bei?
Zeitweise war das Internet abgeschaltet. Deshalb haben wir keine genauen Informationen, wie viele Demonstranten festgenommen wurden oder welches Ausmaß die Polizeigewalt hatte. Aber die Erfahrung lehrt, dass diese Berichte glaubhaft sind. Selbst an Ort und Stelle ist Human Rights Watch übrigens nicht. Wir dürfen seit Jahren nicht ins Land. Was übrigens zeigt, wie groß generell die Angst der Machthaber vor unabhängiger Aufklärung ist. Auch das abgestellte Internet ist ein Beleg dafür.
Warum?
Zum einen waren die Iraner völlig verunsichert, fühlten sich isoliert, den Behörden und deren Informationspolitik hilflos ausgeliefert. Das macht zum anderen allerdings auch sehr deutlich: Das Regime hat offenbar einiges zu verheimlichen und fühlt sich angreifbar. Wohl aus diesem Grund werden die Zahlen über Verhaftungen, Todesopfer und Hinrichtungen von den staatlichen Behörden nicht veröffentlicht. Das Ausmaß scheint gewaltig zu sein.
Den Sicherheitskräften wird vorgeworfen, gezielt auf Demonstranten geschossen zu haben. Treffen die Anschuldigungen zu?
Human Rights Watch kann das nicht beweisen – für plausibel halte ich die Vorwürfe dennoch. Wäre es nicht so gewesen, hätte die Regierung ja Beweise für ihre Darstellung vorlegen können. Das hat sie aber nicht getan. Deshalb fordern wir eine unabhängige Kommission, die die Vorfälle untersucht. Doch das lehnen die Machthaber ab. Warum? Weil sie sich viel haben zuschulden kommen lassen.
Wanken die Mullahs und setzen deshalb auf Gewalt?
Das sieht so aus. Der Iran agiert ebenso wie andere Zwangsstaaten. Überall, wo Bürger aufbegehren, fühlt sich das jeweilige Regime herausgefordert und schlägt brutal zurück. Es geht darum, die Menschen einzuschüchtern.
Gehört die Repression zu den Grundpfeilern des Mullah-Regimes?
Auf jeden Fall! Die Unterdrückung ist systemimmanent. Ein Beispiel: Zeitgleich mit der Abschaltung des Internets wurden acht Umwelt- und Tierschutzaktivisten wegen angeblicher Spionage zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt. Man wollte dies offenbar unter der Decke halten.
Den festgenommenen „Rädelsführern“ der jüngsten Unruhen droht sogar die Todesstrafe. Können die Angeklagten überhaupt auf ein faires Verfahren vor iranischen Gerichten hoffen?
Iran ist alles andere als ein Rechtsstaat. Es kommt immer wieder vor, dass Urteile gekippt werden, weil sie beispielsweise den mächtigen Revolutionsgarden nicht passen. Bei den Umweltaktivisten plädierte das Justizministerium, die Beschuldigten freizulassen. Doch die Garden wollten ein Exempel statuieren und drängten darauf, den Aktivisten den Prozess zu machen. Der Iran ist ein Klüngelsystem, in dem sich einflussreiche Gruppen über das bisschen Recht, das überhaupt noch existiert, einfach hinwegsetzen – um ihre Interessen durchzusetzen.
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