02.10.2022 -ZDF- von Nils Metzger- Proteste in Iran halten an. Die Polizei kommt an ihre Grenzen, Gewalt nimmt zu. Iran-Experte Ali Fathollah-Nejad erklärt die Strategie der Sicherheitskräfte gegen die Bevölkerung.
Trotz Gewalt und Repression von Seiten der Sicherheitskräfte demonstrieren am Wochenende erneut Tausende Iraner für Freiheitsrechte. Es ist die größte Protestwelle seit Jahren. Für die Islamische Republik sind sie zu einer existenziellen Bedrohung angewachsen. Inzwischen kämpft das politische System mehr und mehr ums Überleben. Die Taktiken der Sicherheitsbehörden passen sich daran an. Ein Überblick, wie der Staat die Proteste niederringen will.
Diese Sicherheitskräfte gehen gegen Demonstranten vor
Iran hat eine ganze Reihe an Sicherheitskräften, die nun gegen Demonstranten vorgehen. Darunter:
- Polizeikräfte des Iran (NAJA): Dachorganisation für verschiedene Polizeieinheiten, darunter auch die berüchtigte Sittenpolizei, die etwa für die Kontrolle der Kleidungsvorschriften zuständig ist.
- Revolutionsgarden (IRGC) als ideologisch geprägte Organisation parallel zu den restlichen Sicherheitsbehörden. Sie verfügen über 200.000 aktive Kämpfer, hinzu kommen deutlich mehr irreguläre Kräfte in Form der Basij-Milizen.
Der Politikwissenschaftler Ali Fathollah-Nejad von der Freien Universität Berlin sagt ZDFheute:
Als erstes wird die Polizei bei Protesten auf die Straße geschickt. Wenn das nicht funktioniert, dann kommen die Revolutionsgarden ins Spiel.
Ali Fathollah-Nejad, Freie Universität Berlin
“Es gab seit der Grünen Bewegung von 2009 eine Reorganisation der Sicherheitskräfte mit Fokus auf Straßenproteste und wie man sie niederschlägt. Seit den landesweiten Unruhen von 2017-2018 sieht das Regime die Hauptgefahr nicht von außen, also Israel oder USA, sondern verortet sie im Inneren”, erklärt Fathollah-Nejad. Die wichtigste Stütze des Systems sind die Revolutionsgarden. “Die Basij stehen völlig unter ihrer Kontrolle und auch in der Armeeführung stellen sie zentrale Posten.”
Revolutionsgarden unterwandern die Polizei
Es gebe Anzeichen, dass das Vertrauen der Regierung in die reguläre Polizei schwinde: “Die Polizei schießt weniger leichtfertig auf Menschen. Es gibt gerade eine große Diskussion, ob es zu einer Spaltung kommen könnte; ob sich gewisse Elemente der Polizei den Demonstranten anschließen könnten”, berichtet Fathollah-Nejad.
Das Regime weiß, dass die Menschen in der Polizei und auch in der Armee eventuell Verbündete sehen. Deswegen wurden teils Revolutionsgardisten in Polizeiuniformen losgeschickt – um Hoffnungen der Demonstrierenden auf die Polizei zunichtezumachen. Sie schießen auf Menschen, um das Bild eines potenziellen Verbündeten zu vernichten.
Ali Fathollah-Nejad, Freie Universität Berlin
Hinzu kommt, dass viele Sicherheitskräfte laut Fathollah-Nejad nach zwei Wochen anhaltender Straßenproteste an einer Belastungsgrenze angekommen seien. “Es gibt Erschöpfungszeichen. Tags über hängen viele Einsatzkräfte in Parks herum und ruhen sich aus, um dann abends und nachts mit ihrer schweren Schutzausrüstung einsatzfähig zu sein. Und schon damit waren sie überfordert.” Inzwischen gingen die Leute aber auch tagsüber auf die Straße.
Deshalb gibt es inzwischen so viele Fotos und Videos von Frauen ohne Kopftuch tagsüber – weil immer weniger Kräfte da sind, um das zu kontrollieren.
Ali Fathollah-Nejad, Freie Universität Berlin
Die Sittenpolizei, deren Festnahme und vermutliche Tötung der 22-jährigen Mahsa Amini die Proteste ausgelöst hatte, sei weitgehend von den Straßen verschwunden, berichtet Fathollah-Nejad.
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