08.12.2022-Tagesschau- Von Katharina Willinger, ARD-Studio Istanbul – Die Proteste im Iran ebben nicht ab. Selbst Familienmitglieder der islamischen Führung schlagen sich auf die Seite der Demonstranten. Doch das Regime bleibt stur – inzwischen wurde das erste Todesurteil vollstreckt.
Am Morgen verbreiteten staatliche Medien im Iran die Nachricht: Der 23 Jahre alte Mohsen S. wurde hingerichtet. Erst Ende November soll das Todesurteil gegen ihn ausgesprochen worden sein. Die iranische Justiz wirft ihm vor, während der Proteste eine Straße blockiert und eine Einsatzkraft verletzt zu haben.
Ein Schauprozess, sagen Beobachter, ohne eine unabhängige Verteidigung und die Möglichkeit, das Urteil anzufechten. “Das Regime versucht, die Menschen abzuschrecken”, schreibt eine Menschenrechtsaktivistin auf Twitter. “Das wird nicht funktionieren.”
Der Hingerichtete hatte sich selbst angeklagt
Eine staatliche Nachrichtenagentur verbreitete am Vormittag ein sechsminütiges Video, das die angebliche Tat von Mohsen S. belegen soll. Unterlegt ist das Ganze mit dramatischer Musik. Kronzeuge ist ausgerechnet er selbst. Mit erkennbaren Gesichtsverletzungen legt er ein vermeintliches Geständnis ab, zeigt das Messer, das er benutzt haben will. Beobachter gehen davon aus, dass das Video unter Folter und Zwang entstand.
Tatsächlich haben erpresste Geständnisse seit vielen Jahren System in der Islamischen Republik, sagt Arif Keskin, iranisch-türkischer Politikwissenschaftler:
Man hat auch schon früher Oppositionelle eingesperrt, sie gefoltert und sie dann vor Kameras gezerrt. So machen sie es nun mit den Demonstranten. Man will sie als ängstliche und schwache Menschen zeigen. Als jemand, der bricht, wenn er genug Druck abbekommt.
Solidarität statt Spott für Rapper
Erst vor wenigen Tagen erschien ein solches Video des bekannten Rappers Toomaj Salehi. Er war Ende Oktober festgenommen und inhaftiert worden. In seinen Liedern hatte er das Regime immer wieder kritisiert. Im nun veröffentlichten Video von einer Nachrichtenagentur, die als Sprachrohr der mächtigen Revolutionsgarde gilt, entschuldigt sich Salehi.
Doch im Netz ist kein Spott zu hören, im Gegenteil. Die Menschen stellen sich hinter den Künstler, viele weigern sich, das aufwendig inszenierte Video weiterzuverbreiten und teilen stattdessen Musikvideos des Rappers. “Das Regime erreicht damit nur das Gegenteil, von dem was es will”, glaubt Keskin:
Die Menschen sehen es als die Schwäche des Regimes, das versucht, seinen Niedergang zu verhindern. Und Toomaj Salehi wird nun noch mehr verehrt.
Ganze Städte beteiligten sich am Streik
Auch Salehi könnte die Todesstrafe drohen, international laufen mehrere Solidaritätskampagnen. Mindestens elf Menschen sollen bereits im Zuge der aktuellen Proteste zum Tode verurteilt worden sein. Menschenrechtsorganisationen schätzen die Zahl der durch Einsatzkräfte auf der Straße getöteten Demonstranten auf mehr als 450, die Verhaftungen auf über 18.000.
Dennoch gehen viele Menschen im Land weiter auf die Straße. Zuletzt beteiligten sich Händler und auch einige Industriebetriebe an einem landesweiten, drei Tage andauernden Streik. In kurdischen Provinzen hätten sich daran laut einer Menschenrechtsorganisation ganze Städte beteiligt. In der Hauptstadt Teheran blieben anfangs laut Schätzungen von Augenzeugen mehr als 60 Prozent aller Läden und Restaurants geschlossen. Einige öffneten am Folgetag wieder, wohl aus Angst vor Konsequenzen.
Einschüchterungsversuche durch Polizei und Milizen
Der ARD berichten mehrere Händler und eine Cafébesitzerin, die alle anonym bleiben wollen, von massiven Einschüchterungsversuchen durch Polizei und Milizen:
Sie haben uns offen gedroht: Wenn wir den Laden zulassen, dann würden sie unser Café komplett dicht machen. Ich habe aber Verantwortung für meine Mitarbeiter.
Ein Händler erzählt: “Ich habe eine Familie zu ernähren. Deswegen zeige ich meine Solidarität und meinen Protest nach Feierabend auf der Straße.”
Schwere Vorwürfe der Schwester Khameneis
Unterdessen sorgte ein Brief der Schwester des Obersten Führers Ali Khamenei für Schlagzeilen. Badri Hosseini Khamenei verurteilt darin die Führung ihres Bruders. “Ich denke, es ist Zeit zu erklären, dass ich gegen die Taten meines Bruders bin”, heißt es darin. “Ich spreche allen Müttern, die unter den Verbrechen der Islamischen Republik bis zur jetzigen Ära des tyrannischen Kalifats von Ali Khamenei gelitten haben, mein Mitgefühl aus.”
Badri Hosseini Khamenei lebt im Iran, der Brief war auf dem Twitter-Profil eines im Exil lebenden Bruders veröffentlicht worden. Von Ali Khamenei gab es bisher keine öffentliche Reaktion. Erst Ende November hatte seine Nichte in einer Videobotschaft die internationale Isolierung des Iran gefordert. Wie alle Regimekritiker wurde auch sie daraufhin festgenommen.
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